Das Schwein unter den Fischen
arbeitete, ein Schlangenleder-Portemonnaie geklaut hatte. Als Ramona dann auch noch aus der siffigsten Kneipe unseres Viertels gefeuert wurde, zogen wir zähneknirschend zu Oma Senta. In ihrer Haushälfte führte eine schmale Treppe in den oberen Stock. Die Stufen waren nur halb so breit wie die einer normalen Treppe. Und sie waren so glatt, dass man selbst barfuß darauf ausrutschte. Oma Senta gab mir riesige Filzpantoffeln vom toten Opa, ich fiel gleich in der ersten Woche die Treppe hinunter und brach mir das Bein.
Die obere Etage, in der wir hausten, bestand aus zwei kleinen Zimmern und einem Klo. Dort war es sogar im Sommer düster.
Mein Zimmer diente auch als Abstellkammer. Ich schlief in einer von vergilbten Fotos mit finster dreinblickenden verstorbenen Verwandten umrahmten Ehebetthälfte. Das Bett stand zwischen einem Bügelbrett, einem golden gerahmten Kunstdruck von Botticellis Venus und gestapelten Gartenmöbeln mit schmutzigen Sitzkissen. In einem Schrank aus dunklem Holz bewahrte Oma Senta die Sachen meines toten Opas auf. Die Schranktürknarrte, ächzte und quietschte, und drinnen roch es nach Lavendel und Mottenpulver. Mein Opa hatte nur braune Anzüge besessen. In den oberen Fächern lagen eine Menge Mützen und Hüte – mein Opa hatte schon mit dreißig eine Glatze gehabt. Deswegen ließ Reiner sich auch die Haare wachsen, seit er zwanzig war. Er wollte mit Länge ausgleichen, was einmal an Fülle fehlen könnte.
Ramona trank bei jeder Gelegenheit von dem Whiskey, der für besondere Anlässe bestimmt war. Und egal, wo Oma Senta die mit Schokolade überzogenen Ingwerstäbchen, nach denen sie selbst süchtig war, auch versteckte – Kater Friedrich fand und fraß sie alle.
Als ein neues Gesetz das ganzjährige Wohnen in Kleingartenanlagen erlaubte, warf uns Oma Senta aus ihrer Haushälfte. Allein und schlecht gelaunt zu sein, gefiel ihr dann wohl doch besser. Außerdem glaubte sie, auf diese Weise bei Reiners Jobsuche den nötigen Druck zu erzeugen.
Mitten im Herbst quartierten wir uns in dem niedrigen Häuschen ein, um das sich Oma Senta seit Opas Tod nicht mehr gekümmert hatte. Zum Einzug schenkte sie uns zwei Heizlüfter, die vor allem Reizhusten verursachten. Reiner ging wieder U-Bahn-Waggons putzen, konnte sich in dem Häuschen nur gebückt vorwärtsbewegen und erlitt einen Bandscheibenvorfall. Ramona bekam Haarausfall und Quaddeln, und ich litt immer wieder unter Blasenentzündung. Nur Friedrich lebte selig als Chefkater in der riesigen, verlassenen Anlage und brachte uns als Dank mehrmals täglich totes und halbtotes Getier von seinen Streifzügen mit.
Ich lud nun gar keine Freunde mehr nach Hause ein. Nicht einmal meine beste Freundin Liza aus Liberia, obwohl sie mit ihrer Familie in einem Asylbewerberheim wohnte. Selbst dort hielt ich mich lieber auf als in unserer Schrebergartenkaschemme. Bei Liza lebten zwar noch mehr Leute auf noch weniger Raum, aber das Essen war sehr gut, niemand ließ seinen Frust an mir aus, und Lizas Vater half mir bei den Englischhausaufgaben.
In unserem Häuschen konnte ich von meiner Matratze aus die Wand des Schuppens sehen, in dem der Grill, das Werkzeug und Ramonas alte Trockenhaube gelagert wurden. Wenn ich es nicht mehr aushielt, zog ich Reiners gelbe Regenjacke an und ging in der Anlage spazieren. Die Jackehing mir bis über die Kniekehlen, und ich schlurfte mit meinen löchrigen Turnschuhen stundenlang die feuchten Kieswege auf und ab. Niemand außer uns hauste hier den Winter über.
Nur ein Mal traf ich einen seltsamen Mann in einem auffälligen Anorak. Das Ding leuchtete schon von weitem. Dazu trug er einen Fahrradhelm, obwohl er wie ich zu Fuß unterwegs war. Als ich mich nach ihm umdrehte, sah ich ein blinkendes Stoppschild auf seinem Rücken.
Später erfuhr ich aus der Zeitung, dass der Mann Gernot H. hieß. Kurz nachdem ich ihn gesehen hatte, erhängte sich Gernot H. in seinem Häuschen, gleich bei uns um die Ecke. Man fand ihn erst im Frühling – in seinem Anorak, aber ohne Helm.
Es stellte sich heraus, dass Gernot H. geschieden war. Seine Exfrau hatte einen jungen Unternehmensberater geheiratet und all seinen Besitz mitgenommen. Er selbst besaß nur noch seine Kleidung und das Schrebergartenhäuschen. Seine Tochter Felicitas H. hatte, wie ihre Mutter, jahrelang keinen Kontakt mehr zu Gernot H. gehabt. Sie starb kurz nach seinem Tod auf Ibiza an einer Überdosis Pillen.
Es wurde Frühling. Oma Senta rutschte beim Bohnern der
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