Das Schwert der Wahrheit 9: Die Magie der Erinnerung (German Edition)
dafür kannte sie ihn als erwachsenen Mann, denn sie hatte ihn bis auf den Grund seiner Seele durchschaut. Es gab keinen lebenden Menschen, den sie besser kannte.
Sie wusste, wie tief ihn Caras drohender Verlust betrübte, die ganze Nacht über hatte ihre Gabe ihr – ungebeten – die Laute dieses unverhohlenen Elends übermittelt. Es brach ihr das Herz, Richard einen solchen Verlust erleiden zu sehen. Sie hätte alles getan, um ihm diese bittere Erfahrung zu ersparen.
Es hatte einen Moment gegeben, da hatte sie mit dem Gedanken gespielt, hineinzugehen, ihn in seinem Kummer zu trösten und sein Elend ein wenig zu lindern, indem sie ihm wenigstens ein wenig der damit einhergehenden Einsamkeit nahm. Aber die Tür hatte sich nicht öffnen lassen!
Das hatte sie zwar verwundert, ihr Gefühl sagte ihr jedoch, dass sich dort drinnen nicht mehr als zwei Personen befanden, und da sie hören konnte, dass drüben auf der anderen Seite nichts als blankes Elend herrschte, hatte sie erst gar nicht versucht, die Tür gewaltsam zu öffnen. Als ihr die Marter, Richards Bittgebete an die im Sterben liegende Cara anhören zu müssen, unerträglich wurde, war sie schließlich nach draußen gegangen, was schließlich damit geendet hatte, dass sie über den nachtschwarzen Abgrund hinweg zu der von ihm geschaffenen Statue hinüberstarrte …
Als sie dann irgendwann erst Schritte und gleich darauf jemanden ihren Namen rufen hörte, wandte sie sich überrascht herum.
Richard löste sich aus den Schatten und kam in Begleitung einer zweiten Person näher. Nicci verließ aller Mut. Das konnte nur eins bedeuten: Caras Qualen hatten endlich ein Ende genommen.
Als Richard schon fast bei ihr war, erkannte sie, wer ihn begleitete.
»Bei den Gütigen Seelen, Richard«, hauchte sie mit weit aufgerissenen Augen, »was hast du nur getan?«
Im trüben Schein der fernen Fackeln wirkte Cara durch und durch lebendig und bei bester Gesundheit.
»Lord Rahl hat mich geheilt«, sagte sie so beiläufig, als wäre dies eine unbedeutende Leistung, die nicht mehr Beachtung verdiente, als hätte er ihr beim Wasserholen geholfen.
Nicci starrte beide schockiert an und brachte außer einem knappen »Wie?« kein Wort über die Lippen.
Richard wirkte so erschöpft, als hätte er soeben eine Schlacht überstanden. Sie erwartete halb, ihn über und über mit Blut bedeckt zu sehen.
»Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, es nicht wenigstens versucht zu haben«, erklärte er. »Und vermutlich war dieses Bedürfnis so stark, dass ich plötzlich alles tun konnte, was nötig war, um sie zu heilen.«
Plötzlich wurde ihr nur zu deutlich klar, warum sich die Tür nicht hatte öffnen lassen. Er hatte tatsächlich eine Schlacht hinter sich und war in gewissem Sinn mit Blut bedeckt, wenn auch nicht mit jener Sorte, die sichtbar war.
Nicci beugte sich zu ihm. »Du hast deine Gabe benutzt.« Es war keine Frage, sondern ein Vorwurf. Er antwortete ihr dennoch.
»Vermutlich, ja.«
»Vermutlich ja.« Nicci wünschte, sie könnte sich zwingen, nicht so zu klingen, als äffte sie ihn nach. »Ich habe es mit jeder mir bekannten Methode versucht, aber was ich auch probiert habe, nichts davon ist auch nur bis zu ihr durchgedrungen, ich konnte sie nicht heilen. Was hast du nur getan? Und wie hast du es geschafft, dein Han zu berühren?«
Richard zuckte verlegen mit den Schultern. »Ich weiß selbst nicht so genau, wie es funktioniert hat. Ich hatte sie in die Arme genommen und konnte deutlich fühlen, dass sie im Sterben lag, ich konnte fühlen, dass sie mir mehr und mehr entglitt. Also ließ ich mich – mental – sozusagen in sie hineinsinken, bis zum Kern dessen, was ihre Persönlichkeit ausmacht, bis an den Punkt, wo sie Hilfe brauchte. Nachdem ich diesen Ort völliger Harmonie mit ihr erreicht hatte, nahm ich ihre Schmerzen auf mich, damit sie die nötige Kraft hätte, die lebensspendende Wärme anzunehmen, die ich ihr bot.«
Das komplizierte Phänomen, das er beschrieb, war Nicci vertraut, sie war allerdings verblüfft, es auf so beiläufige Weise erläutert zu hören. Es war, als hätte er auf ihre Frage, wie er es geschafft habe, eine so lebensechte Statue in Marmor zu meißeln, seine meisterliche Leistung mit den Worten beschrieben, er habe lediglich den überflüssigen Marmor weggeschlagen. So zutreffend die Erklärung sein mochte, sie klang so salopp, dass sie ans Absurde grenzte.
»Demnach hast du auf dich genommen, was sie umzubringen drohte?«
»Was blieb
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