Das Schwert der Wahrheit 9: Die Magie der Erinnerung (German Edition)
einer derart merkwürdigen unterirdischen Friedhofsgruft verborgen lagen – aus einer Vielzahl von Gründen.
Mit einer Handbewegung wies Nathan abermals auf die sich über die vier großen Tische verteilenden Bücherstapel. »Hier befinden sich zweifellos Abschriften von einer Reihe Bücher, die wir von früher her kennen – ich habe sie dir gezeigt -, aber die meisten Schriften hier sind neu für mich. Es ist noch nie da gewesen, dass eine Bibliothek in diesem Ausmaß vom Kanon der klassischen Meisterwerke abweicht. Gewiss, jede Bibliothek verfügt über einen Bestand an einzigartigen Titeln, aber an diesem Ort fühlt man sich, als hätte es einen in eine völlig andere Welt verschlagen. Fast jeder Band hier unten ist eine erstaunliche Neuentdeckung.«
Unversehens erwachte Anns Misstrauen, denn sie hatte das unheimliche Gefühl, dass Nathan zu guter Letzt im Zentrum jenes Labyrinths angekommen war, das sein Geist durchwanderte. Ein Detail, das er eben erwähnt hatte, kam aus dem Hintergrund ihrer Gedanken an die Oberfläche.
»Einen Ratschlag?«, hakte sie misstrauisch nach. »Welcher Art?«
»Dem Leser, dessen Interesse nicht allgemeiner Natur ist, sondern der vielmehr Grund hat, sich umfassendere und speziellere Kenntnisse über die darin behandelten Themen zu verschaffen, wird empfohlen, die einschlägigen bei den Gebeinen aufbewahrten Bände zu konsultieren.«
Anns Stirn furchte sich noch tiefer. »Bei den Gebeinen aufbewahrte Bände?«
»Ja. Verstecke wie dieses werden darin als ›zentrale Stätten‹ bezeichnet.« Erneut beugte sich Nathan vor, nicht ganz unähnlich einem Waschweib, das jede Menge böswilligen Tratsch loswerden will. »Von diesen ›zentralen Stätten‹ ist an einer Vielzahl von Stellen die Rede, aber bislang konnte ich nur eine einzige finden, wo einer dieser Orte namentlich genannt wird: die Katakomben unter den Gewölbekellern im Palast der Propheten.«
Ann klappte der Unterkiefer runter. »Katakomben … das ist doch abwegig. Unter dem Palast der Propheten gab es keinen solchen Ort.«
»Nicht, soweit wir wissen«, erwiderte Nathan ernst. »Was aber nicht bedeutet, dass er nicht existiert.«
»Aber … aber«, stammelte Ann, »das ist schlicht unmöglich. Ausgeschlossen. So etwas hätte niemals unbemerkt bleiben können. In all den Jahren, die die Schwestern dort lebten, hätten wir davon erfahren.«
Nathan zuckte mit den Schultern. »Während all dieser Zeit wusste auch niemand etwas von diesem Ort hier unter den Gebeinen.«
»Aber hier wohnte auch niemand unmittelbar darüber.«
»Und wenn die Existenz der Katakomben unter dem Palast nicht allgemein bekannt war? Schließlich wissen wir nur sehr wenig über die Zauberer aus jener Zeit – und nicht eben viel über die Personen, die maßgeblich an der Errichtung des Palasts der Propheten beteiligt waren. Es könnte doch sein, dass sie ihre Gründe hatten, einen solchen Ort geheim zu halten – genau wie diesen Ort.«
Nathan hob eine Augenbraue. »Angenommen, der Zweck des Palasts – die Ausbildung junger Zauberer – war Teil eines ausgeklügelten Ablenkungsmanövers, um die Existenz der verborgenen Lagerstätten geheim zu halten?«
Ann spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. »Willst du damit etwa andeuten, unsere Mission sei sinnlos gewesen? Wie kannst du es wagen, auch nur anzudeuten, wir hätten unser ganzes Leben nichts anderem als einer Illusion gewidmet und das Leben der mit der Gabe Gesegneten wäre verschont worden, wenn wir …«
»Ich deute nichts dergleichen an. Ich behaupte ja gar nicht, dass die Schwestern hinters Licht geführt worden seien oder das Leben der mit der Gabe gesegneten Knaben durch ihr Tun nicht verschont worden wäre. Ich sage lediglich, diese Bücher lassen den Schluss zu, dass möglicherweise mehr dahintersteckte. Angenommen, es ging nicht nur darum, einen Ort zu haben, an dem die Schwestern ihrer nützlichen Berufung nachgehen konnten, sondern man verfolgte mit diesem Ort noch einen höheren Zweck? Denk doch nur an den Friedhof über uns: Obwohl er seinen Zweck erfüllt, stellt er gleichzeitig eine praktische Tarnung dar, hinter der sich dieses Lager verbergen lässt.
Vielleicht wurden diese Katakomben ganz bewusst vor mehr als tausend Jahren in der Absicht verschlossen, sie zu verstecken? Wenn dem so ist, entsprach es der ursprünglichen Absicht, dass wir niemals von ihrer Existenz erfahren haben. Wenn es ein geheimes Lager war, dürfte es wohl kaum Aufzeichnungen darüber gegeben
Weitere Kostenlose Bücher