Das Science Fiction Jahr 2013 (German Edition)
anderen Abenteuer, ich fantasiere mal: von dem Aufstand einfacher Menschen gegen wohl organisierte Staatskonzerne, die im Auftrag ihres Herrn unterwegs sind, die Reichen noch reicher zu machen. Vielleicht kommt ihnen, wenn es um Unsterblichkeit geht, in den Sinn, dass dem Versuch, sich als Machthaber zu perpetuieren – durch Meerwasser oder infinite Mehrfachwahl –, kein Heil beschieden ist.
Fazit: Dies ist ein dickes Buch mit vielen farbenprächtigen Episoden; ein Schmöker, der mehr als eine Armlänge Abstand hält zu unserem Alltag und seinen Plagen; ein Roman, der in eine fantastische Landschaft entführt, die reichlich Raum bietet für unsere liebgewonnenen Geschichten von edlen Räubern, schönen Räuberbräuten und tief empfundener Liebe mit dem TV-Serien-Echtheitssiegel.
Ahoi, ihr Wüstenschiffer!
Hartmut Kasper
DAVID MARUSEK
WIR WAREN AUSSER UNS VOR GLÜCK
Erzählungen · Aus dem Amerikanischen von Jasper Nicolaisen und Jakob Schmidt · Golkonda Verlag, Berlin 2011 · 223 Seiten · € 14,90
Tausend Kilometer pro Stunde schnelle Wagen in Interkontinentalröhren, dreitausend Meter hohe Wohntürme, Raumschiffe mit fünfhunderttausend Passagieren, Billionen von virtuellen Wesen – wenn man den Kurzgeschichtenband von David Marusek aufschlägt, fühlt man sich in wildeste (retro)futuristische Szenarien versetzt. Doch Marusek verliert sich nicht in einem technischen Gigantomanismus; seine Erzählungen sind ein Beispiel für die gelungene Synthese von glaubwürdiger Charaktergestaltung, spannenden Settings und erfindungsreichen Science-Fiction-»Gadgets«. Die titelgebende Geschichte »Wir waren außer uns vor Glück« – zuerst 1995 erschienen – ist der Höhepunkt des Buches. Sie sollte auch zuerst gelesen werden, da sie in den Hintergrund dieser Welt einführt. Der Autor schafft es in dieser Novelle, die ganz eigene Atmosphäre einer Zukunftswelt aufzubauen.
Die Story spielt um 2090. Der ein wenig Ablenkung suchende Künstler Sam Harger, der besonders mit seinem Verpackungsdesign Furore gemacht hat, lernt auf einer Party die Holo-Repräsentation der erfolgreichen Anwältin Eleanor Starke kennen, die sich für ihn interessiert (sie weilt gerade in Budapest). Sie verabreden sich zu einem realen Treffen und aus der Affäre, die sie beginnen, wird mit der Zeit eine Liebesbeziehung. Sie beschließen zu heiraten. Der Bräutigam ist hundertsiebenundvierzig, sein Wahlalter liegt bei Mitte dreißig; seine Braut wählt aus beruflichen Gründen ein etwas älteres Aussehen, sie ist zweihundert. Sie sind offensichtlich das, was man ein Power-Paar nennt, was sich auch in der Aufmerksamkeit niederschlägt, die ihnen entgegengebracht wird – bei ihrer Hochzeit sind sechs Millionen virtuelle Gäste anwesend. Eleanor wird in der Folge ein prestigeträchtiger, aber auch gefährlicher Politikjob angeboten. Zudem wird ihnen ein seltenes Privileg zuteil, sie bekommen die Genehmigung für eine Retro-Schwangerschaft – in einer Welt, in der Geburten dank nanotechnologischer Verjüngung verboten sind. Eleanor hatte zuvor schon zwei Kinder, die aber beide an Krankheiten gestorben sind. Natürlich gibt es keine biologische Schwangerschaft mehr; ein tiefgekühltes Fötus-»Chassis« soll mit ihren genetischen Daten »überschrieben« werden. Nach einer Woche Wartezeit kann das Baby abgeholt werden. Doch diese Welt hält für das Ehepaar eine unangenehme Überraschung bereit. Überall patrouillierende »Schnecken« der Nationalmiliz diagnostizieren Sams Körper als möglicherweise verseucht mit sogenannten »Nasties« – das sind autonom agierende Mikrowaffen –, weshalb seine Zellen vorsorglich »fixiert« werden; dadurch kommt er für eine Vaterschaft nicht mehr infrage, und auch die Verjüngungstechnik kann nicht mehr angewendet werden. Er wird in den Medien sogar für tot erklärt. Das hat Auswirkungen auf ihr weiteres gemeinsames Leben.
Von der Dichte der technischen Einfälle her lässt Marusek jedenfalls nichts zu wünschen übrig. Im Flugzeug auf dem Weg in die Flitterwochen arbeitet Eleanor mit ihrem »Kabinett« aus zwölf projizierten virtuellen Personen, die alle Variationen ihrer selbst darstellen – bis auf den Sicherheitschef. Die Stellvertreter-Technologie ermöglicht es Politikern, an hundert Orten gleichzeitig zu sein – was Probleme der Koordination ihrer Aussagen mit sich bringt (siehe die Erzählung »Kraut und Kohl«). Raumschiffe schützen sich durch eine spezielle
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