Das Science Fiction Jahr 2013 (German Edition)
älteren Sims sich aber unverändert zeigen. Sims können sogar einen Test machen zu ihrer Menschwerdung, wenn sie in der Lage sind, hypothetische Situationen durchzuspielen und sich frei eine Geschichte auszudenken. »Das Hochzeitsalbum« ist zu Beginn eine interessante Reflexion über die Art und Weise der menschlichen Erinnerung, über das Verhältnis der eigenen Lebensgeschichte zu seiner Dokumentation. Die Novelle wird dann aber zu einer Befreiungsgeschichte der Sims aus ihrer User-Herrschaft, die ziemlich ausfranst und es für den Leser schwierig macht, den Überblick zu behalten. Irgendjemand hat gesagt, Science Fiction brauche starke Wendungen und große Erklärungen, aber hier wäre weniger mehr gewesen.
Die anderen Geschichten, die in demselben Universum spielen, fallen gegenüber den beiden Novellen ab. Sie wirken zum Teil nicht »auserzählt«, das Fehlen einer gewissen erzählerischen Kohärenz macht sich bemerkbar. Marusek ist ein Autor, der ein komplexes Tableau ausbreiten und es mit Personen und Objekten bestücken kann, aber offenbar weniger Augenmerk auf die Handlung legt. Was aber die Informationsdichte und die Intensität des Lebensgefühls betrifft, gibt es in der Science Fiction wenig Vergleichbares. Wenn man bedenkt, zu welchem Zeitpunkt »Wir waren außer uns vor Glück« entstanden ist, kann David Marusek – neben Greg Bear und Greg Egan – zu den interessantesten Vorreitern einer posthumanen SF gezählt werden.
Wolfgang Neuhaus
IAN McDONALD
CYBERABAD
(RIVER OF GODS)
Roman · Aus dem Englischen von Bernhard Kempen · Wilhelm Heyne Verlag, München 2012 · 798 Seiten · € 10,99
Eines der erstaunlichen Dinge an diesem Buch ist, dass es bereits um 2004 geschrieben wurde und erst jetzt in deutscher Übersetzung vorliegt – denn es blickt auf derart scharfsichtige und intelligente Weise in die Zukunft, dass seine geringe Bekanntheit regelrecht verwundert. Der 1960 geborene Autor, aufgewachsen als Sohn einer irischen Mutter und eines schottischen Vaters, zeigt auch in diesem Werk sein großes Talent, sich mit ethnischen und religiösen Konfliktzonen außerhalb der westlichen Welt auf sehr humanistische Weise zu befassen und in äußerst spannende Geschichten zu verweben. Sein Herz schlägt dabei stets auf Seiten der Unterdrückten und Ausgestoßenen, egal ob es sich um außerirdische Flüchtlinge oder afrikanische Underdogs handelt – oder wie hier um die Millionen indischen Slumbewohner auf der Suche nach einem besseren Leben.
Der im Jahr 2047 angesiedelte Roman entwirft ein unglaublich buntes, lautes, vielschichtiges Szenario einer südasiatischen Zukunft, das sich extrem real anfühlt – so als könnten wir es bereits ertasten, wenn wir die Hände ausstrecken. Hundert Jahre nach Erringung der Unabhängigkeit hat sich Indien in mehrere Teilstaaten aufgespalten, die mit den Folgen des Klimawandels zu kämpfen haben: Die globale Erwärmung bringt Trockenheit, geänderte Meeresströmungen führen zum Ausbleiben des Monsuns, lebenswichtiges Trinkwasser fehlt allerorten. Mitten in dieser bedrückenden, gewaltbereiten Welt lässt McDonald alte Traditionen und modernste Technologien aufeinanderprallen, indem er insgesamt zehn verschiedenen Protagonisten auf ihrem Kampf um ein menschenwürdiges Fortkommen folgt: Ein »Krishna-Cop« jagt nach außer Kontrolle geratenen Künstlichen Intelligenzen; zwei Verbrecher liefern (nicht freiwillig gespendetes) organisches Material an Gentechnik-Firmen; ein ehrgeiziger Diplomat versucht die Fehler der kriegslüsternen Premierministerin zu korrigieren und gelangt in eine verhängnisvolle Affäre mit einem Exemplar hochgezüchteter, geschlechtsneutraler Menschen …
Immer wieder wird hierbei die Leidensfähigkeit der Protagonisten ausgelotet, schwankt deren Beschreibung zwischen Mitgefühl und Abscheu, kaum eine menschliche Regung auslassend. Das Panorama an Handlungsträgern, Statisten und Settings ist so berauschend, dass man die überfüllten Straßen mit ihren Gerüchen und Klängen ständig wahrzunehmen glaubt – wie ein Tourist, dessen Eindrücke so lange nur an der Oberfläche kratzen, bis er bereit ist, seine Vorsicht aufzugeben und tiefer einzudringen. Unterstützt wird diese beinahe schon sinnliche Leseerfahrung durch gekonnt eingestreute Ethnologismen und Idiome (für die hilfreicherweise am Ende ein Glossar angehängt wurde). Der Autor erweist sich hierbei im Umgang mit fremden Sprachen als zugleich ernsthafter und
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