Das sechste Herz
Franks große Gestalt war unverkennbar. Mit großen Schritten marschierte er von der Haltestelle weg. Zum Glück nicht in ihre Richtung. Sie wäre vor Scham im Boden versunken, wenn er plötzlich vor ihrem Auto gestanden und sie am Steuer gesehen hätte. Noch ehe sie den Gedanken ganz zu Ende gedacht hatte, war sie auch schon ausgestiegen und folgte ihm, wobei sie sich im Gehen den Schal um den Hals wickelte. An der nächsten Kreuzung warf sie einen hastigen Blick auf das Schild: Rathausstraße. Franks Gestalt entfernte sich rasch. Mit seinen langen Beinen kam er deutlich schneller voran als sie. Lisa bemühte sich, nicht so laut zu atmen, und beeilte sich. Sie durfte nicht zu dicht an ihn herankommen, sonst bemerkte er sie. Wo wollte er hin? Im Dahinstolpern nahm sie sich vor, zu Hause nachzusehen, wo sie sich hier genau befanden. Ohne nach links und rechts zu schauen, überquerte sie eine größere Straße. Frank war links in einen schmalen Weg abgebogen und lief jetzt noch schneller. Lisa fixierte die große Gestalt einen Moment zu lange, strauchelte und stolperte. Wild mit den Armen rudernd, gelang es ihr gerade noch, sich abzufangen, aber sie hatte für ein paar Sekunden lang den Blick abgewendet. Als sie wieder aufschaute, war ihr »Zielobjekt« wie vom Erdboden verschluckt.
Lisa straffte sich und eilte zur nächsten Biegung des Weges – aber er blieb verschwunden. Ihr Fluchen hallte durch die Nacht, und sie rief sich zur Räson. Frank war weg, und sie hatte keine Ahnung, wo er hingegangen war.
17
»Du kannst die Veranstaltungstermine aktualisieren und für die Wochenendausgabe vorbereiten.« Hubert, der Patrick gegenübersaß, blickte kurz zur Tür und dann wieder auf seinen Bildschirm. »Die Datei mit Daten, Orten und Zeiten liegt im temporären Ordner im Intranet. Du ordnest das Ganze nach Stadtteilen, Genre und dann nach Tag und Uhrzeit. Wenn noch Platz ist, fügen wir ein paar kleine Fotos ein.« Patrick nickte und unterdrückte ein genervtes Schnaufen. Hubert tat gerade so, als erledigte der Praktikant dies zum ersten Mal, dabei hatte er schon letzte und vorletzte Woche die Rubrik »Wohin am Wochenende« fast allein gestaltet und mit Inhalten gefüllt.
»Ich rufe inzwischen noch einmal bei der Literaturgesellschaft an und erfrage ein paar Details zu dieser Preisverleihung am Sonnabend. Ob Tom jemanden von den Freien zur Berichterstattung hinschicken wird?«
Patrick verkniff sich eine Antwort auf die rhetorische Frage. Wie er schnell gemerkt hatte, war bei einer Tageszeitung nicht alles planbar. Man musste auf aktuelle Ereignisse reagieren, und dann wurden »unwichtigere« Termine einfach über den Haufen geworfen.
»Wenn ich mir alles angeschaut habe, kannst du die Veranstaltungen anschließend in den Online-Bereich stellen.«
»Geht klar, Chef.« Hubert behandelte ihn wie ein Baby.
»Traritrara, die Post ist da!« Gleichzeitig mit seinen Worten hatte der Briefträger die Eingangstür zu den Redaktionsräumen aufgestoßen und war hereingekommen. Die Brille auf Halbmast sah er sich um: »Wer?«
Das sollte heißen: Wer nimmt die Post entgegen? Der Mann machte das jeden Vormittag so. Wahrscheinlich hielt er sich für witzig. Patrick murmelte ein »Hallo«, während Hubert sich erhob.
»Guten Morgen.« Der Postbote sortierte seine Fracht auf dem Tisch neben dem Kopierer und erklärte: »Acht Briefe, zwei Postwurfsendungen, eine Büchersendung und ein Einschreiben.« Hubert, der jetzt neben dem Briefträger stand, zückte einen Stift und unterschrieb auf dem Formular, das der Mann ihm auf einem Klemmbrett präsentierte.
»Das war’s schon. Tschüss, bis morgen!« Die Tür fiel zu. Weg war er. Patrick hatte seine Aufmerksamkeit gerade wieder den Veranstaltungen zugewandt, als er Hubert hüsteln hörte. Der Kollege hielt mit spitzen Fingern einen gefütterten Umschlag hoch. Braunes Papier, die Adresse auf einen Aufkleber gedruckt. »Erinnert dich das an irgendetwas?« Noch während Patrick den Kopf schüttelte, fiel ihm ein, wo er einen solchen Umschlag schon einmal gesehen hatte. Hubert war inzwischen herangekommen und betrachtete dabei noch immer mit gerunzelter Stirn den Brief, ehe er sich in der Redaktion umsah. Im Nebenraum tippte Christin einen Artikel für morgen. Friedrich Westermann war mal wieder unten, eine rauchen, und Ulrike Bannschuh zu Recherchen außer Haus. Die Tür zu Toms Büro war verschlossen. Patrick hatte keine Ahnung, ob der Redaktionsleiter anwesend war. Oft blieb er
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