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Das sechste Herz

Das sechste Herz

Titel: Das sechste Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Puhlfürst
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Motiv.«
    »Gibt es bislang denn überhaupt eins?« Agnes hatte die Hände flach auf die Tischplatte gelegt. Ihre Nägel waren kurz geschnitten.
    »Bekannt geworden ist keins.«
    »Du arbeitest doch auch als Fallanalytiker, nicht? Kommst du da nicht an solche Informationen ran?«
    »Nicht mehr, liebe Agnes, nicht mehr. Aber ich habe noch einige Kontakte, die mir manchmal etwas erzählen. Anscheinend kennen die Ermittler aber das Motiv in diesem neuen Fall selbst nicht. Es gibt kein Bekennerschreiben, keine Anrufe, nichts, was auf den Täter hindeutet. Was wäre, wenn Geroldsen zu jemandem hier drin Kontakt hatte, der inzwischen entlassen wurde? Wenn er denjenigen beeinflusst hat, draußen für ihn zu morden?«
    »Wie sollte ihm denn das gelungen sein? In den zehn Jahren, die er hier ist, hat er sich stets von allen ferngehalten. Die erste Zeit musste man ihn zu seiner eigenen Sicherheit strikt separieren. Du weißt ja, was mit Tätern geschieht, die Kinder ermorden, egal wie alt sie zum Zeitpunkt der Tat waren. Aber auch später schien er kein Bedürfnis zu haben, sich mit anderen Patienten anzufreunden. Ich sage das alles natürlich unter Vorbehalt, weil ich es auch nur zufällig aufgeschnappt habe.«
    »Deshalb wollte ich in die Akte schauen. Vielleicht hat Solomon etwas dazu aufgeschrieben. Geroldsen studiert doch. Dazu ist es notwendig, dass er schriftlich mit der Außenwelt verkehrt. Womöglich gibt es dort einen Anhaltspunkt?«
    »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Aber du könntest recht haben.« Agnes strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn. »Ich habe dir ja versprochen, darüber nachzudenken. Mal schauen, was mein Gewissen dazu sagt. Nächsten Dienstag wissen wir mehr.«
    »Danke. Ich werde mich dann auch auf die Socken machen.«
    »Ich bringe dich. Wie immer.« Agnes lächelte breit und knöpfte ihren Kittel zu. Eine Jacke zog sie auch dieses Mal nicht über. »Hoffen wir, dass nicht noch mehr schlimme Dinge geschehen.« Mark nickte heftig und folgte ihr auf den Gang.

16
    Lisa warf sich den Schal über die Schulter und sah an dem Haus nach oben. Die Fassade bröckelte an einigen Stellen. Nicht alle Fenster trugen Gardinen. Sie rieb sich die kalten Hände. In welchem Stockwerk mochte Frank wohnen?
    Der schlanke, große Mann war ihr gleich aufgefallen, als er das erste Mal in die Therapiegruppe gekommen war. Frank strahlte Ruhe aus, er wirkte so, als wäre er vollkommen mit sich im Reinen. Was für einen trockenen Alkoholiker äußerst ungewöhnlich war. Sie alle litten doch unter dem steten Bemühen, sich beherrschen zu müssen, nur nicht in Versuchung zu geraten und wieder zu trinken. Fast alle in der Gruppe berichteten davon, fast alle wurden sie von Rastlosigkeit und innerer Unruhe geplagt. Nur Frank nicht. Frank war hereinspaziert, hatte seinen Vornamen genannt und dann auf seinem Stuhl Platz genommen, wo er die ganze Zeit ohne zu zappeln gesessen und zugehört hatte. Anfangs hatte er sich nur selten an den Gesprächen beteiligt, aber auch das hatte Lisa gefallen. Das ewige Geschwafel einiger Gruppenmitglieder ging ihr manchmal ganz schön auf die Nerven. Im Nachbareingang flammte das Hauslicht auf, und sie trat dichter an die massive Holztür heran und tat, als studiere sie die Namen auf dem Klingelbrett.
    Letzten Sonnabend war sie Frank bis zu seinem Wohnhaus nachgeschlichen. Lisa vergrub die klammen Finger in den Hosentaschen. Sie war ein Feigling. Es wäre doch kein Problem gewesen, ihn gleich nach dem Treffen anzusprechen und ein bisschen mit ihm zu plaudern. Vielleicht hätten sie auch noch einen Kaffee trinken gehen können. Oder etwas essen. Aber nein – das hatte die sonst so coole Lisa Bachmann nicht fertiggebracht. Stattdessen schlich sie hier in der Gegend herum und hoffte, ihren Angebeteten »zufällig« zu treffen. Wieder glitt ihr Blick über die Fensterfront. Vielleicht war er gar nicht daheim.
    Lisa sah zur Uhr und gab sich noch zehn Minuten. Wenn Frank dann nicht auftauchte, würde sie sich in Thomas’ kleine Karre setzen und nach Hause fahren. Heute war Mittwoch. Mittwochs gab es im Fernsehen immer Filme mit Herzschmerz. Lisa liebte Herzschmerz.
    Sie sah Frank vor sich, wie er letzte Woche aus dem dicken Märchenbuch vorgelesen hatte. Sein ernsthaftes Gesicht, die ruhige Stimme, die ihnen das Gleichnis von der Stimme des Herzens vorgetragen hatte. Mit so viel Gefühl, dass ihr die Tränen gekommen waren. Lisa schniefte und fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase,

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