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Das siebte Kreuz

Das siebte Kreuz

Titel: Das siebte Kreuz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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daß sein Jackendieb doch kein gewöhnlicher Dieb war. Dem Schulwart, kaum daß er vorhin den Schuppen besichtigt hatte, war gleich der Zusammenhang aufgegangen. Er hatte bloß noch den Direktor gefragt, ob er anrufen sollte.
     
    Als Helwig herunterkam – gleich nach ihm hatte der Müller seine Schuhe beschreiben müssen –, da war das ganze Terrain zwischen Schule und Mauer schon abgesperrt. Die Stelle war schon markiert, an der Georg über die Mauer gesprungen war und Spalierobst zerschlagen hatte. Posten standen vor der Mauer und vor dem Schuppen. Und Lehrer und Gärtner und Schüler drängten sich vor der Absperrung. Man hatte die Mittagspause verlängern müssen; die Erbsensuppe mit Speck in den großen Kübeln hatte eine Haut bekommen.
     
    Ein älterer Gärtner arbeitete, offenbar unberührt von der ganzen Aufregung, ein paar Meter von der Absperrung weg an einer Wegregulierung. Er war aus dem gleichen Ort wie der kleine Helwig. Und der – sein zornig bleiches Gesicht war inzwischen rot geworden, und eifrig und wichtig gab er auf alle Fragen Antwort – blieb neben dem alten Gärtner noch mal stehen, vielleicht gerade, weil der ihn gar nichts fragte. »Ich soll meine Jacke wiederbekommen«, sagte der kleine Helwig. »So«, sagte der Gärtner. »Ich hab sie ganz genau beschreiben müssen.« – »Und hast du sie ganz genau beschrieben?« fragte der Gärtner Gültscher, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. »Gewiß, ich hab doch gemußt«, sagte der Junge. Der Schulwart klingelte zum zweitenmal Mittag. Im Speisesaal ging es von neuem los. Es war auch schon hier ein Gerücht, daß in Liebach und Buchenau die Hitlerjugend mitsuchen durfte. Der kleine Helwig wurde ausgefragt. Jetzt war er aber schweigsam. Er schien gegen einen neuen, stilleren Anfall von Kummer zu kämpfen. Dabei fiel ihm dennoch ein, daß in der Jacke auch eine Mitgliedskarte der Buchenauer Turner gesteckt hatte. Ob er das nachträglich noch melden sollte?
     
    Was würde der Dieb mit der Karte machen? Er konnte sie einfach an einem Streichholz verbrennen. Aber woher nimmt ein Flüchtling ein Streichholz? Er konnte sie einfach zerfetzen und in irgendeinen Abort werten. Aber kann denn ein Flüchtling einfach wo hineingehen? Ach, einfach die Schnipsel irgendwo in die Erde getreten, dachte der Junge sonderbar beruhigt. Er machte dann einen Umweg und ging nochmals an dem alten Gärtner vorbei. Er hatte auf diesen Mann, der aus seinem Ort war, soviel und sowenig geachtet wie junge Menschen auf alte Menschen achten, die schon immer mal da waren und höchstens mal zwischendurch sterben. Er blieb auch jetzt ohne Grund hinter dem alten Gültscher stehen, der an der Wegregulierung seine Zwiebeln versetzte. Der kleine Helwig war bei der Hitlerjugend und in der Gärtnerei gut angeschrieben und kam überall ganz gut vorwärts. Er war ein kräftiger, offener, anstelliger Junge. Daß jene Männer, die man im Lager Westhofen einsperrte, da hinein gehörten wie Irre ins Irrenhaus, davon war er überzeugt.
     
    »Du, Gültscher«, sagte er. »Was?« – »Ich hab auch meine Mitgliedskarte in der Jacke gehabt.« – »Na, und?« – »Ob ich das noch hinterher anmelden soll?« – »Du hast ja alles angemeldet, du hast ja gemußt«, sagte der Gärtner.
     
    Er sah jetzt zum erstenmal an dem Jungen hinauf und sagte: »Mach dir keine Sorgen, du kriegst deine Jacke wieder.« – »Ja, meinst du?« sagte der Junge. »Sicher. Sie werden ihn ganz bestimmt fangen, eher heut als morgen. Wieviel hat sie denn gekostet?« – »Achtzehn Mark.« – »Das war dann schon was Ordentliches«, sagte Gültscher, als wollte er den Kummer des Jungen nochmals auffrischen, »da wird sie ja allerlei aushaken. Du wirst sie tragen, wenn du mit deinem Mädchen gehst. Und der«, er deutete unbestimmt durch die Luft über Land, »der wird dann schon längst, längst tot sein.« Der Junge runzelte die Stirn. »Na, und?« sagte er plötzlich grob und patzig. »Gar nichts«, sagte der alte Gültscher, »überhaupt gar nichts.« Warum hat er mich denn eben noch mal so angesehen, dachte der kleine Helwig.
     
     
     

6
     
    In dem Hof, in dem Georg sich hinter dem Holzstapel versteckt hatte, waren kreuz und quer Wäscheseile gespannt. Aus dem Haus kamen zwei Frauen, eine alte und eine mittlere, mit einem Waschkorb. Die alte sah stramm und hart aus, die jüngere ging vornübergebeugt mit müdem Gesicht. Wären wir doch zusammengeblieben, Wallau, dachte Georg – ein neuer, wilderer Lärm kam vom

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