Das Siegel der Macht
Benediktiner sollte vor allem schweigen.«
»In Einsiedeln werde ich meine Worte dann wieder abzählen müssen. Auf Reisen aber dürfen die Klosterbrüder sich der Welt anpassen. Ich kann sprechen, so viel ich will, und habe sogar Reithosen zugeteilt bekommen.«
»Aber Ihr habt schon Recht«, sinnierte Alexius und ließ den Blick zu den kostbaren Teppichen schweifen. »Weshalb wird das christliche Gebot der Armut und Gleichheit kaum mehr beachtet?«
»Nach der göttlichen Ordnung sind alle Menschen gleich. Die Ungleichheit entspringt der weltlichen Ordnung.«
»Aber weshalb lässt Gott Armut und Reichtum und damit die Ungleichheit zu?«
»Nicht nur das«, ereiferte sich Kolumban. »Oft muss der Bessere dem Schlechteren dienen. Der Grund ist einfach. Die Knechtschaft kommt von der Sünde Adams her, und das Herrentum ist zur Aufrechterhaltung der Ordnung notwendig.«
Der englische Mönch schlief bereits tief, als Alexius nach dem Abendessen zu Woldo gerufen wurde. Zu seiner Verblüffung führte der Prälat ihn schnurstracks ins bischöfliche Schlafgemach.
»Hier sind wir ungestört.« Nach einem Griff zur Karaffe fügte der Bischof hinzu: »Ein weiterer Becher Wein kann uns nicht schaden. Ich muss mich entspannen. Vor lauter Zahlen schwirrt mir der Kopf.«
»Zahlen?«
»Ja, ein Hirte muss wissen, wie viel Schafe er hat. Als Bischof gehört es zu meinen Pflichten, über die Getreideabgaben und die Steinbrüche Bescheid zu wissen. Die Herbergspflichten dem Kaiser gegenüber, die Lieferung der Falken. Außerdem sind da die Priester … Ihr habt keine Ahnung, wie viel Wein und Scheffel Getreide man braucht, um eine ansehnliche Schar von Geistlichen zu ernähren.« Als Alexius keine Antwort gab, fragte Woldo: »Was hat einen Missus des Kaisers nach Chur geführt? Bringt Ihr mir etwa einen Brief des Heiligen Vaters?«
»Ich bin auf dem Weg nach Selz und nach Essen.«
»Also keine Botschaft für mich.« Der Bischof war enttäuscht. Mehr zu sich selbst fuhr er fort: »Ich werde wohl persönlich nach Rom pilgern müssen.«
»Habt Ihr vor einiger Zeit einen Ritter namens Carolus zu Gast gehabt?«, riss Alexius den Geistlichen aus den Gedanken.
»Ja, ein vornehm gekleideter Sachse. Er war auf dem Weg in den Süden.«
»Hat er einen Brief hinterlassen?«
»Einen Brief?«
»Ja. Mein Freund Carolus soll hier im Bischofspalast von Chur ein Schreiben für mich deponiert haben.«
»Vage erinnere ich mich. Der Ritter hat wirr geredet. Wahrscheinlich der Wein. Aber es stimmt. Er hat ein Pergamentstück dagelassen.«
»Was hat Carolus gesagt?«
»Wartet … Ja, ich entsinne mich. Er hat mich gebeten, den Brief dem nächsten Missus der Reichsregierung mitzugeben. Mein Gott! Der Brief liegt schon seit dem letzten Herbst hier. Niemand hat danach gefragt, da habe ich ihn glatt vergessen.« Woldo schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. »Wo habe ich das Schreiben nur hingelegt?« Als er dem gespannten Blick des Besuchers begegnete, wurde der Prälat plötzlich misstrauisch. »Wer sagt mir, dass die Zeilen für Euch bestimmt waren?«
»Hat ein anderer Bote danach gefragt?«
»Nein, Ihr habt Recht. Nur vom Sachsen selbst könnt Ihr von dem Brief erfahren haben. Wenn ich mich nur besinnen könnte.« Der Bischof griff erneut zum Weinbecher, das Gesicht rötete sich. »Der vornehme Carolus hat mir einen Stein geschenkt … Natürlich, wie konnte ich das vergessen.« Er stand auf und nahm ein verziertes Kästchen aus Elfenbein zur Hand. Seine Finger schoben Ketten aus Silber und Gold zur Seite und bekamen eine kleine, gebundene Pergamentrolle zu fassen. Im Hohlraum steckte ein Edelstein.
Alexius griff nach dem Schreiben, aber der Bischof behielt es in der Hand. »Noch ein Adliger, der lesen kann?«
»Ich bin Missus, und außerdem stamme ich aus Byzanz. Griechenland ist die Wiege der Kultur.« Stolz schwang in Alexius’ Stimme mit.
Der andere machte eine wegwerfende Bewegung. »Verrückte Welt. Ein Kaiserbote, der das Griechische lesen kann wie Latein!«
Alexius verabschiedete sich und ging in seine Schlafkammer. Er strich das Pergament glatt und entdeckte, dass zwei Briefe ineinander gerollt waren. Eine einzige Kerze half ihm, das erste Blatt zu entziffern.
»Man hat versucht, mich zu töten. Ich habe Bruchstücke eines Gesprächs zwischen Abt Witigowo und zwei Gästen gehört. Heilige Worte von Bischofswahlen und Äbten …«
Gespannt breitete Alexius das zweite Pergamentstück aus. Es war von Carolus
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