Das Siegel der Macht
geblieben. Alexius war froh, dass die braune Tunika aus seinem Blickfeld verschwand. Geduldig suchte er nach seinen Kleidern und fand sie auf der anderen Seite des Sees. Das Bauernmädchen hatte ihm einen Streich gespielt.
Die Episode stimmte ihn fröhlich. Belustigt trocknete er sich ab, schüttelte die Kleider aus und zog sich wieder an. Als er mit seinem Gefolge durch das Tor der Fallsteinburg ritt, dachte er immer noch an die blonde Haarflut und das klingende Lachen. Bald würde er Gast der vornehmen domina sein. Ihr Haushofmeister musste die halb- und unfreien Bauern der Besitzung kennen. Es würde ein Kinderspiel sein, die Unbekannte wiederzufinden. Seine Gedanken wanderten zu Lucilla. Seltsam, zwei junge Frauen aus dem Volk und beide mit einer makellosen Haut. Im Gegensatz zu Lucillas olivem Teint war die Haut der blonden Sächsin aber weiß, fast durchsichtig. Plötzlich kam ihm der Alabasterschmuck seiner Mutter in den Sinn.
9
»Eure Beschwerden mit der Sommerhitze sind Entschuldigung genug.« Gerbert von Aurillac sah dem Kaiser gutmütig in die Augen und beugte sich wieder über das Pergament. In fein säuberlicher Schrift malte er weiter: Quia temporis difficultate adstrictus …
»Brun wird mir nicht glauben.« Ottos Stimme klang gequält. Er fühlte sich auch im mittelitalienischen Arezzo nicht wohl. Die drückende Julihitze war ein Grund von vielen, die ihn nordwärts drängten. Er wollte möglichst bald die Lombardei erreichen und von dort über den Brenner nach Deutschland ziehen.
»Er soll Euch nicht glauben. Brun … Papst Gregor will dem Reich Kraft entziehen. Das ist gefährlich. Er muss merken, dass Ihr Rom den Rücken kehrt, weil seine Forderungen unverschämt sind.«
»Ja, er hätte nicht so große Gebiete verlangen sollen. Nun muss mein päpstlicher Vetter ohne meinen Schutz auskommen. Wir reisen über die Alpen nach Norden zurück.«
»Passt auf, was jetzt passiert! Der Heilige Vater hofft auf die Unterstützung der Römer. Weshalb sonst hätte er Euch schon am Abend nach der Krönung bitten sollen, Crescentius Nomentanus zu begnadigen? Wie Boten uns berichtet haben, ist der Senator vor einigen Tagen mit großem Pomp in die Stadt Rom zurückgekehrt. Der Papst will sich bestimmt unter seinen Schutz stellen. Wenn es Gregor tatsächlich gelingt, sich mit Crescentius zu verständigen, kann er es sich leisten, ohne kaiserlichen Schutz auszukommen.«
Stimmengewirr lenkte Otto ab. In einem Teil des großen Saals wurde gewürfelt. Kommentare der Höflinge feuerten die Spielenden an. Der Herrscher lächelte Gerbert entschuldigend zu und ging nach unten zu seinem Gefolge. Eifrig schwirrten Diener hin und her, legten Messer und Becher auf, trugen duftende Schüsseln zu den Tischen. Otto hatte erst zwei Würfelrunden hinter sich, als der Speisemeister zur Tafel rief.
Die geistlichen Würdenträger setzten sich auf die Ehrenplätze. Zur Rechten und Linken des Kaisers Bischof Notker von Lüttich und Gerbert von Aurillac. Otto strahlte aufgekratzt und angelte sich mit dem Messer ein zartes Fasanstück, die Mahlzeit war eröffnet.
»Mein lieber Gerbert. Es erstaunt mich, dass Ihr an die Fortuna glaubt«, stürzte sich der Herrscher ins Tischgespräch. »Wie denkt Ihr dazu, Notker?«
Der Bischof von Lüttich erschrak, fühlte sich in seinem Innersten aufgewühlt. Aber er ließ sich nichts anmerken und griff zum Weinbecher. In der Hast verschluckte er sich. »Wie denke ich über was? Über die Fortuna oder Gerberts Glaube an sie?«
»Die Fortuna. Lasst Ihr die Fortuna zu?«
Als der Bischof von Lüttich ihn nur anstarrte und keine Antwort gab, insistierte Otto: »Ja, sagt uns, wie Ihr über das Glück denkt, den Zufall, die Fortuna eben!«
»Gerbert hat die lateinischen Dichter zu intensiv studiert«, sagte Notker schneidend. »Vergil, Horaz, Ovid … Als sprachliche Vorübungen mögen die römischen Dichter gut sein. Wer den Inhalt aber ernst nimmt, gerät in gefährliche Wasser.«
»Wollt Ihr meine Behauptung abstreiten, Notker?« Gerberts Stimme klang provozierend. »Ein Teil der Dinge geschieht durch den Willen Gottes, ein anderer durch die blinde Fortuna.«
Notker zitierte empört: »Initium superbiae hominis apostatare a Deo.« Als der Erzbischof von Reims nicht auf die Provokation reagierte, konnte Notker sich nicht mehr zurückhalten: »Ihr frönt der Superbia, Gerbert, der Ur- und Grundsünde des Menschen, dem Ausgangspunkt aller Laster.«
Gerbert blieb ruhig. »Ihr glaubt also
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