Das Siegel der Tage
Argentinien gedreht, weil in Chile das Erbe der Diktatur noch schwer lastete – ein ordentlicher Film zu sein, und ich bedauerte, daß er kaum Beachtung fand, auch wenn er noch heute auf Video zu haben ist und im Fernsehen läuft. Erzählt wird die auf wahren Ereignissen basierende politische Geschichte von fünfzehn Campesinos, die vom Militär verhaftet wurden und verschwanden, aber im Kern ist es ein Liebesroman. Willie bekam ihn zu seinem fünfzigsten Geburtstag von einer Freundin geschenkt und las ihn im Urlaub; später bedankte er sich bei der Freundin mit einem Kärtchen, auf dem steht: »Die Autorin sieht die Liebe wie ich.« Und deshalb, wegen der Liebe, die er auf diesen Seiten spürte, wollte er mich kennenlernen, als ich auf einer Lesereise nach Kalifornien kam. Bei unserer ersten Begegnungsprach er mich auf die Hauptfiguren an, fragte, ob sie wirklich gelebt hätten oder von mir erfunden worden seien, ob ihre Liebe die Wechselfälle des Exils überstanden habe und sie je nach Chile zurückgekehrt seien. Diese Zweifel begegnen mir ständig: Nicht nur Kinder wollen wissen, wieviel Wahres an der Fiktion ist. Ich setzte zu einer Erklärung an, aber nach wenigen Sätzen unterbrach er mich: »Sprich nicht weiter, ich will es nicht wissen. Wichtig ist nur, daß du das geschrieben hast und also an diese Art Liebe glaubst.« Später gestand er mir, er sei immer überzeugt gewesen, daß eine solche Liebe möglich sein müsse, obwohl ihm bis dahin nichts widerfahren war, das auch nur entfernt daran erinnerte. Mein zweiter Roman hat mir Glück gebracht, durch ihn habe ich Willie kennengelernt.
Als der Film anlief, war in Europa bereits mein Roman Fortunas Tochter erschienen, in dem sich nach Ansicht einiger Kritiker feministische Ideen widerspiegeln. Eliza streift das enge viktorianische Korsett ab, trifft völlig unvorbereitet auf eine Männerwelt, in der sie nur bestehen kann, indem sie in die Rolle eines Mannes schlüpft, und in dieser Entwicklung gewinnt sie etwas sehr Kostbares: Freiheit. Darüber hatte ich während des Schreibens nicht nachgedacht, ich glaubte, es ginge einfach um den Goldrausch und diese Melange aus Abenteurern, Banditen, Predigern und Prostituierten, aus der San Francisco hervorgegangen ist, aber die feministische Deutung scheint mir berechtigt, weil sich darin meine Überzeugungen ausdrücken und mein Verlangen nach Unabhängigkeit, das für mein Leben entscheidend gewesen ist. Um das Buch zu schreiben, fuhr ich mit Willie kreuz und quer durch Kalifornien, sog mich mit seiner Geschichte voll und versuchte, mir diese Zeit im neunzehnten Jahrhundert auszumalen, als die Nuggets am Grund der Flüsse und in den Felsritzen funkelten und die Habgier der Menschen befeuerten. Trotz der Highways sind die Entfernungen riesig, zu Pferd oder zu Fuß über schmale Bergpfade müssen sieeinem endlos erschienen sein. Die großartige Landschaft Kaliforniens, seine Wälder, die schneebedeckten Gipfel, die reißenden Flüsse laden zum Schweigen ein und erinnern mich an die verwunschenen Regionen Südchiles. Die Geschichte und die Menschen meiner beiden Heimatländer, Chile und Kalifornien, sind sehr verschieden, aber in Landschaft und Klima ähneln sie sich. Wenn ich von einer Reise nach Hause komme, habe ich häufig den Eindruck, dreißig Jahre meines Lebens im Kreis gelaufen und am Ende wieder in Chile gelandet zu sein; dieselben regennassen und stürmischen Wintermonate, dieselben trockenen und heißen Sommer, dieselben Bäume, schroffen Küsten, dasselbe kalte und dunkle Meer, die endlosen Hügelketten, der wolkenlose Himmel.
Auf Fortunas Tochter folgte Porträt in Sepia , ein Roman, der ebenfalls Chile mit Kalifornien verbindet. Es geht darin um das Erinnern. Auch ich bin eine ewig Verpflanzte, wie Pablo Neruda das genannt hat; meine Wurzeln wären längst vertrocknet, zehrten sie nicht vom reichen Nährboden der Vergangenheit, der in meinem Fall notwendig auch einen Teil Erdachtes enthält. Vielleicht nicht nur in meinem Fall, denn angeblich laufen im Gehirn, wenn man sich an etwas erinnert, fast genau die gleichen Prozesse ab, wie wenn man sich etwas ausdenkt. Die Anregung zu der Romanhandlung stammte aus einem entfernten Zweig meiner Familie: Dort hatte der Ehemann von einer der Töchter sich in seine Schwägerin verliebt. In Chile werden solche Vorkommnisse in der Familie nicht an die große Glocke gehängt; alle können Bescheid wissen, dennoch spinnt man ein verschwörerisches Netz des
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