Das Siegel der Tage
anderen, als wäre der Teufel hinter ihm her … Er bekam Muskeln an Stellen, wo sie nicht vorgesehen sind, und konnte in der Yoga-Position »Der Baum« Pfannkuchen backen: auf einem Bein, das andere angewinkelt und den Fuß auf die Innenseite des Oberschenkels gestützt, einen Arm in die Höhe gestreckt und mit dem anderen im Teig rührend, während er laut und vernehmlich OOOOM sagte. Irgendwann kam er morgens zum Frühstück bei mir vorbei, und ich erkannte ihn nicht. Aus dem Renaissance-Edelmann war ein Gladiator geworden.
Loris Versuche, schwanger zu werden, schlugen alle fehl, und tieftraurig verabschiedete sie sich von diesem Traum. Die Fruchtbarkeitsbehandlung und das viele Wühlen in ihrem Unterleib hatten sie arg mitgenommen, aber das war nichts, verglichen mit ihren seelischen Schmerzen. Zwischen Nico und Celia herrschte fast offene Feindschaft, und die Reibereien machten Lori stark zu schaffen, weil sie sich von Celia angegriffen fühlte. Über deren ruppige Art konnte sie nicht hinwegsehen, auch wenn Nico ihr noch so oft sein Mantra wiederholte: »Nimm es nicht persönlich, für die eigenen Gefühle ist jeder selbst verantwortlich, das Leben ist nicht gerecht.« Ich glaube nicht, daß ihr das viel weiterhalf. Aber zumindest bemühten sich beide Paare darum, die Kinder aus ihren Schwierigkeiten herauszuhalten.
Die Rolle der Stiefmutter ist undankbar, zu diesem Klischee habe auch ich mit meinem Tropfen Galligkeit beigetragen. Man findet nicht eine einzige gute Stiefmutter in Märchen oder bekannten literarischen Werken, sieht man von Pablo Nerudas Stiefmutter ab, die der Dichter »Mamadre« nennt. Im allgemeinen wird an Stiefmüttern kein gutes Haar gelassen, aber Lori bemühte sich so liebevoll um meine Enkel, daß die sie mit ihrem untrüglichen Kinderinstinkt genauso ins Herz schlossen wie Sally und außerdem zu allererst zu ihr kommen, wenn sie etwas brauchen, weil auf Lori immer Verlaß ist. Heute können sie sich ein Leben ohne ihre drei Mütter nicht mehr vorstellen. Jahrelang wünschten sie sich, ihre vier Eltern, Nico und Lori, Celia und Sally, würden zusammenwohnen, und das möglichst im Haus der Großeltern, aber von diesem Wunschtraum ist keine Rede mehr. Die Kinderjahre meiner Enkel waren vom Hin und Her zwischen den Paaren bestimmt, immer waren die drei unterwegs wie kleine Rucksackreisende. Wenn sie bei dem einen Elternpaar waren, vermißten sie das andere. Meine Mutter fürchtete, dieses Arrangement werde die Kinder unwiderruflich zu Vagabunden machen, aber mir kommen sie beständiger vor als die meisten anderen Menschen, die ich kenne.
Das Jahr 2000 klang in einem schlichten Ritual aus, in dem wir von Loris und Nicos nie geborenem Kind und von anderen Kümmernissen Abschied nahmen. An einem verschneiten Tag brachen wir mit einer von Loris Freundinnen in die Berge auf, mit einer jungen Frau, die wie eine Verkörperung der Erdgöttin Gaia ist. Wir hatten Taschenlampen und Ponchos dabei, falls die Dunkelheit uns überraschte. Von der Kuppe eines Hügels deutete Gaia einen Abhang hinunter und tief im Tal auf ein weites kreisrundes, perfekt gelegtes Labyrinth aus Steinen. Über einen Trampelpfad stiegen wir hinab, rechts und links ragten grau die Hänge, darüber spannte sich ein weißer Himmel, vor dem schwarzeVögel kreuzten. Loris Freundin sagte, wir seien zusammengekommen, um den einen und anderen Kummer abzustreifen, seien hier, um Lori zu begleiten, doch fehle keinem von uns ein Anlaß zur Traurigkeit, der hierbleiben könne. Nico hatte ein Foto von dir dabei, Willie eins von Jennifer, Lori ein Kästchen und ein Foto ihrer kleinen Nichte. Wir schritten die von den Steinen markierten Wege ab, langsam, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, während vor dem fahlen Himmel die düsteren Vögel krächzend mit den Flügeln schlugen. Manchmal begegneten wir einander in dem Labyrinth, und ich merkte, daß wir alle vor Kälte zitterten und ergriffen waren.
In der Mitte war aus Steinen ein kleiner Hügel aufgeschichtet, wie ein Altar, auf dem andere Wanderer ihre schon vom Regen durchweichten Erinnerungen zurückgelassen hatten: Botschaften auf Zetteln, eine Feder, welke Blumen, eine Medaille. Wir setzten uns dort im Kreis und deponierten unsere Schätze. Lori steckte zwischen die Steine das Foto ihrer Nichte, die mit ihrer Familienähnlichkeit und -ausstrahlung dem Kind glich, das sie sich so sehr gewünscht hatte. Sie erzählte uns, sie und ihre Schwester hätten sich schon als kleine
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