Das Siegel der Tage
Schweigens, um nach außen hin den Schein zu wahren. Vielleicht hat deshalb niemand gern einen Schriftsteller in der Familie. Was ich in dem Roman erzähle, spielte sich auf einem hübschen Landgut am Fuß der Anden ab, und die Beteiligten, die gutherzigsten Menschen der Welt, hatten ein solches Unglück nicht verdient. Aberich glaube, sie hätten es leichter verkraften können, wenn sie offen darüber geredet und, anstatt sich mit ihrem Geheimnis zu verkriechen, Türen und Fenster aufgerissen hätten, damit ein frischer Luftzug den muffigen Geruch hätte fortwehen können. So war es eins dieser Dramen von Liebe und Verrat, die sich, wie in einem russischen Roman, begraben unter vielen Schichten von Konvention entwickeln. Willie hat recht, wenn er sagt, daß hinter den geschlossenen Kellertüren der Familie so manche Leiche modert.
Ich hatte das Buch nicht als Fortsetzung von Fortunas Tochter geplant, auch wenn es zur selben Zeit spielt, aber etliche Figuren, wie Eliza Sommers, der chinesische Arzt Tao Chi’en, die Matriarchin Paulina del Valle und andere mehr, drängten auf die Seiten, ohne daß ich es hätte verhindern können. Etwa um die Mitte des Buchs wurde mir klar, daß ich beide Romane mit dem Geisterhaus verbinden und so eine Art Trilogie schaffen konnte, die mit Fortunas Tochter beginnt und Porträt in Sepia als Brückenschlag benutzt. Dumm war nur, daß in einem der Bücher Severo del Valle ein Bein im Krieg verliert und im nächsten Buch auf beiden Füßen steht; irgendwo im Getümmel der literarischen Irrtümer ist also ein amputiertes Bein unterwegs. Für alles, was Kalifornien betraf, konnte ich einfach auf meine Recherchen für den vorangegangenen Roman zurückgreifen, aber das übrige mußte ich in Chile herausfinden mit Hilfe von Onkel Ramón, der monatelang Geschichtsbücher wälzte und sich durch alte Akten und Zeitungen grub. Es war ein guter Vorwand, um meine Eltern häufiger zu besuchen, die beide die Achtzig überschritten hatten und ein bißchen wackeliger wirkten als früher. Zum erstenmal befiel mich der beängstigende Gedanke, eines nicht allzu fernen Tages verwaist und ohne sie zu sein. Was sollte ich nur tun, wenn ich nicht mehr an meine Mutter schreiben konnte? In jenem Jahr gab sie mir die Pakete mit meinen Briefen, in Weihnachtspapier eingeschlagen, zurück, weil es ihr möglich schien, daß siebald sterben würde. »Nimm, verwahr sie gut. Wenn mich der Schlag trifft, sollten sie nicht in fremde Hände geraten.« Seitdem gibt sie mir die Briefe Jahr für Jahr und versichert sich, daß Nico und Lori sie nach meinem Tod dem Feuer überantworten werden. Unsere sündige Indiskretion wird ein Raub der Flammen sein: In diesen Briefen schreiben wir über alles, was uns in den Sinn kommt, und bewerfen noch dazu andere Leute mit Dreck. Weil meine Mutter eine so gute Briefschreiberin ist und ich ihr ja antworten muß, steht mir eine üppige Korrespondenz zur Verfügung, in der alle Ereignisse noch frisch sind; ohne sie könnte ich dieses Buch niemals schreiben. Durch unseren Briefwechsel soll die Verbindung lebendig bleiben, die zwischen uns besteht, seit meine Mutter mich empfangen hat, aber er dient auch dazu, dem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, diesem nebelhaften Wabern, in dem die Erinnerungen sich verflüchtigen, sich durchmischen und sich wandeln, bis wir am Ende unserer Tage feststellen, daß wir nur erlebt haben, was wir uns in Erinnerung rufen können. Was ich nicht aufschreibe, entgleitet mir, es ist, als wäre es nie geschehen, deshalb fehlt in diesen Briefen nichts, was von Bedeutung war. Manchmal ruft meine Mutter mich an, weil sie mir dringend etwas erzählen muß, und das erste, was mir einfällt, ist, sie zu bitten, daß sie es mir schreibt, damit es nicht verlorengeht. Sollte sie vor mir sterben, wovon man ausgehen muß, kann ich jeden Tag zwei Briefe lesen, einen von ihr, einen von mir, bis ich hundertfünf bin, und da ich bis dahin sicher tief in seniler Verwirrung stecke, wird alles neu für mich sein. Dank unserer Briefe werde ich zweimal leben.
Im Labyrinth des Kummers
Nico hatte sich von der Verletzung am Rücken erholt, seine Porphyrie-Werte begannen zu sinken, und er dachte ernsthaft darüber nach, sich eine neue Arbeit zu suchen. Außerdem machte er Yoga und trieb Sport: Ohne Not hob er Gewichte, schwamm durch die eisigen Wasser der Bucht von San Francisco nach Alcatraz und zurück, strampelte auf dem Rad sechzig Meilen bergauf, rannte von einem Ort zum
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