Das Siegel der Tage
zog es vor, Bescheid zu wissen. Manoli bedankte sich für die Großmut, war aber zum Glück lebenserfahren genug, ihr nie eine Untreue zu gestehen. So lebte Juliette gelassen und verliebt. Sechzehn Jahre verbrachten die beiden zusammen in Lindos.
Das Restaurant hielt sie während der Sommermonate auf Trab, aber im Winter schlossen sie es und nutzten die Zeit zum Reisen. Manoli war in der Küche ein Zauberer. Alles kam frisch auf den Tisch, Fleisch und Fisch vom Grill und verschiedene Salate. Er selbst suchte früh am Morgen, wenn die Boote vom Fang zurückkamen, jeden einzelnen Fisch aus und wählte unter dem Gemüse, das mit Eseln von den Feldern gebracht wurde, was er brauchte; er hatte einen guten Ruf auf der Insel. Vom Dorf bis zu der Klippe, an der das Restaurant lag, war es ein gemächlicher Spaziergang von zwanzig Minuten. Die Gäste hatten keine Eile, die malerische Landschaft lud zum Betrachten ein. Die meisten blieben bis zum Morgen, verfolgten den Lauf des Mondes über der Akropolis und dem Meer. In ihren luftigen weißen Baumwollkleidern und den Sandalen, mit ihrem tief kastanienbraunen Haar, das sich offen über ihre Schultern ergoß, und dem klassisch schönen Profil übte Juliette eine noch größere Anziehung aus als Manolis gutes Essen. Sie glich einer Vestalin in einem antiken griechischen Tempel, um so erstaunlicher war es, daß sie mit amerikanischem Akzent sprach. Sie glitt mit dem Tablett in der Hand zwischen den Tischen hindurch, immer sanftmütig und freundlich trotz des Tumults der Gäste, die sich auf der Terrasse drängten oder davor auf einen freien Tisch warteten. Nur zweimal platzte ihr der Kragen, und beide Male waren amerikanische Touristen daran schuld. Beim erstenmal ließ einvon zuviel Sonne und Ouzo geröteter Dickwanst dreimal hintereinander sein Essen zurückgehen, weil es nicht genau dem entsprach, was er sich vorgestellt hatte, wobei er auch noch ausfällig wurde. Juliette hatte schon einen langen Abend hinter sich und kippte dem Kerl den vierten Teller kommentarlos über den Kopf. Bei der zweiten Gelegenheit war eine Schlange beteiligt, die sich am Tischbein empor- und auf die Salatschüssel zuschlängelte, inmitten des hysterischen Gekreischs einer Gruppe Texaner, die bei sich daheim ganz bestimmt schon weit größere Exemplare gesehen hatten. Jedenfalls bestand kein Anlaß, die anderen Gäste mit einem solchen Geschrei aufzuschrecken. Juliette nahm ein großes Küchenmesser und hieb die Schlange mit vier sauberen Schlägen in fünf Stücke. »Ihre Languste kommt sofort«, war alles, was sie dazu sagte.
Juliette ertrug gut gelaunt Manolis Marotten – kein einfacher Ehemann –, denn er war der lustigste und leidenschaftlichste Mann, dem sie je begegnet war. Verglichen mit ihm, war keiner sonst der Rede wert. Manche Frauen drückten Manoli vor Juliettes Augen den Zimmerschlüssel ihres Hotels in die Hand, den er immer mit einem hinreißenden Scherz zurückgab, nachdem er sich die Zimmernummer eingeprägt hatte. Die beiden hatten zwei Kinder, die so hübsch waren wie die Mutter: Aristoteles und vier Jahre später Achill. Der kleinere trug noch Windeln, als sein Vater eines Tages nach Thessaloniki aufbrach, um einen Arzt aufzusuchen, weil ihm die Knochen weh taten. Juliette blieb mit den beiden Kindern in Lindos und hielt das Restaurant am Laufen; sie nahm das Unwohlsein ihres Mannes nicht weiter wichtig, denn sie hatte ihn nie klagen hören. Manoli rief sie jeden Tag an und erzählte ihr Belanglosigkeiten, seine Gesundheit erwähnte er mit keinem Wort. Auf ihre Fragen antwortete er ausweichend und versprach, in weniger als einer Woche nach Hause zu kommen, wenn die Ergebnisse der Untersuchungen vorlägen. An dem Tagjedoch, an dem sie ihn zurückerwartete, sah sie früh morgens Freunde und Nachbarn in einer langen Reihe den Hügel heraufkommen. Da spürte sie, wie sich eine Klaue um ihre Kehle schloß, und erinnerte sich, daß ihrem Mann am Tag zuvor die Stimme in einem Schluchzen erstickt war, als er sagte: »Du bist eine gute Mutter, Juliette.« Sie hatte lange über diesen Satz gegrübelt, weil der so gar nicht zu Manoli paßte, der ihr gegenüber mit Rührseligkeiten immer gegeizt hatte. In diesem Moment fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, daß das ein Abschied gewesen war. Die Beileidsmienen der vor ihrer Tür versammelten Männer und die Umarmungen der Frauen bestätigten es. Manoli war an einem sich rasend wachsenden Krebs gestorben, von dem niemand etwas geahnt
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