Das Siegel der Tage
eins zusätzlich überlassen? Gib ihnen eins, und das andere nehme ich.«
Sie lachte und erklärte mir, sie habe auf keines von beiden ein Anrecht, es gäbe Absprachen und sogar rechtskräftige Verträge über die Eizellen und Spermien, die Elternschaft und alles sonstige Drum und Dran, ich würde mir also nicht einfach einen der beiden Zwillinge unter den Nagel reißen können. Ein Jammer, es war anders als bei einem Wurf junger Hunde.
Juliette ist die Göttin Aphrodite, ist ganz Weichheit und Fülle: Kurven, Brüste, ein Mund zum Küssen. Hätte ich siefrüher kennengelernt, ihr Bild hätte den Umschlag meines Buchs über Essen und Liebe geschmückt. Sie und die beiden griechischen Kinder, wie ihre Söhne bei uns heißen, sind wie selbstverständlich Teil unserer Familie geworden, und wenn ich heute meine Enkel zähle, rechne ich noch zwei dazu. So wuchs die Sippe, diese gesegnete Gemeinschaft, in der die Freude sich vervielfacht und das Leid geteilt wird. Aristoteles und Achill bekamen Stipendien für die renommierteste Privatschule im County, und durch einen Glücksfall konnte Juliette ein Häuschen mit Garten in unserer Nachbarschaft mieten. Jetzt leben alle, Nico, Lori, Ernesto, Giulia, Juliette, Willie und ich, nur wenige Straßen voneinander entfernt, und die Kinder können zu Fuß oder mit dem Rad zwischen den Häusern wechseln. Die ganze Familie half Juliette beim Umzug, und während Nico herumklempnerte, Lori Bilder aufhängte und Willie den Grillplatz herrichtete, rief ich Manoli herbei, damit er über die Seinen wachte, wie er es seiner Frau mit jenem postumen Abschiedskuß versprochen hatte.
An einem Sommertag – wir saßen zusammen an unserem Pool, und Willie brachte dem kleinen Achill, der wasserscheu war, aber vor Neid fast verging, wenn er sah, wie die anderen Kinder herumplanschten, das Schwimmen bei – fragte ich Juliette, wie sie, die doch so mütterlich war, neun Monate zwei Kinder hatte austragen können, sie zur Welt gebracht und noch am selben Tag hergegeben hatte.
»Es waren nicht meine Kinder, sie waren nur für eine Weile in mir. Solange habe ich mich um sie gesorgt und hatte sie lieb, aber nicht auf diese besitzergreifende Art, wie ich Aristoteles und Achill liebe. Ich habe ja von Anfang an gewußt, daß ich mich von ihnen trennen würde. Nach der Geburt hatte ich sie kurz im Arm, habe sie geküßt, ihnen Glück gewünscht und sie dann an die Eltern weitergegeben, die sie sofort mitgenommen haben. Meine milchvollen Brüste taten weh, mein Herz nicht. Ich habe mich für dieEltern gefreut, die beiden hatten sich so dringend Kinder gewünscht.«
»Würdest du es noch einmal tun?«
»Nein, ich bin fast vierzig, und eine Schwangerschaft zehrt doch sehr. Höchstens für dich würde ich es noch einmal tun, Isabel.«
»Für mich? Da sei Gott vor! Das letzte, was ich mir in meinem Alter wünsche, ist ein Säugling«, lachte ich.
»Warum hast du mich dann gebeten, einen Zwilling für dich zu stehlen?«
»Nicht für mich, er wäre für Lori gewesen.«
Jason und Judy
In den Augen meiner Mutter ist Willies beste Eigenschaft, daß er »anstellig« ist. Ihr wäre es im Traum nicht eingefallen, Onkel Ramón im Büro anzurufen, damit er auf dem Nachhauseweg Sardinen für das Abendessen besorgt, oder ihn zu bitten, die Schuhe auszuziehen, auf einen Stuhl zu steigen und mit einem Staubwedel über die Schränke zu gehen, was Willie alles anstandslos tut. In meinen Augen ist das Bewundernswerteste an ihm seine trotzige Zuversicht. Willie ist nicht unterzukriegen. Ich habe ihn manches Mal am Boden gesehen, aber dann rappelt er sich hoch, klopft sich den Staub ab, rückt seinen Hut zurecht und setzt seinen Weg fort. Er hat so viele Schwierigkeiten mit seinen Kindern gehabt, daß ich an seiner Stelle in eine unheilbare Depression verfallen wäre. Nicht nur wegen Jennifer hat er gelitten, auch seine beiden Söhne haben ihm mit ihren dramatischen Drogenkarrieren zugesetzt. Willie hat ihnen immer beigestanden, aber mit den Jahren erkennen müssen, daß es aussichtslos ist; deshalb klammert er sich an Jason.
»Wieso hast du als einziger etwas von mir gelernt? Bei den anderen heißt es immer nur: Gib, gib, gib«, sagte Willie einmal zu ihm.
»Sie glauben, das sei ihr gutes Recht, weil sie deine Kinder sind, aber mir bist du nichts schuldig. Du bist nicht mein Vater, warst aber immer für mich da. Wie sollte es mir also egal sein, was du mir sagst?«
»Ich bin stolz auf dich«, grummelte Willie und
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