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Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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hatte, weil er die Marter seiner zerstörten Knochen klaglos ertrug. Aufs Festland war er gereist, weil er wußte, daß seine Stunde gekommen war, und aus Stolz nicht wollte, daß seine Frau und seine Kinder ihn sterben sahen. Die Einwohner von Lindos legten zusammen und kauften Flugtickets für Juliette und die Kinder. Die Frauen des Dorfs packten ihr einen Koffer, schlossen das Haus und das Restaurant ab, und eine von ihnen begleitete Juliette nach Thessaloniki.
    Die junge Witwe fragte in den Krankenhäusern der Stadt nach, weil sie noch nicht einmal sicher wußte, wo ihr Mann sich befand, bis man sie schließlich in einen Keller führte, der nicht mehr als ein Erdhöhle war, wie man sie zum Lagern von Wein benutzte, und dort lag, nur von einem Laken bedeckt, ein Leichnam auf einem Holztisch. Im ersten Moment empfand sie Erleichterung, weil sie dachte, sie sei Opfer einer bösen Verwechslung geworden. Dieser gelbe, ausgemergelte Leib mit dem schmerzverzerrten Gesicht glich in nichts dem heiteren und lebenslustigen Mann, mit dem sie verheiratet war, aber dann hielt der Krankenpfleger neben ihr die Lampe in die Höhe, und Juliette erkannte Manoli. In den nächsten Stunden mußte sie aus tiefsten TiefenKräfte freisetzen, fand eine Grabstelle auf dem Friedhof und bestattete ihren Mann ohne Zeremonie. Dann ging sie mit ihren Kindern auf einen Platz mit Bäumen und Tauben und erklärte ihnen, daß sie ihren Vater nie mehr wiedersehen, ihn aber oft an ihrer Seite spüren würden, weil Manoli immer auf sie aufpaßte. Achill war noch zu klein, um das Ausmaß des Verlusts zu begreifen, aber für Aristoteles war es ein Schock. In derselben Nacht fuhr Juliette aus dem Schlaf hoch, weil sie auf den Mund geküßt wurde. Sie spürte deutlich die weichen Lippen, den warmen Atem, das Kitzeln der Barthaare ihres Mannes, der gekommen war, ihr den Abschiedskuß zu geben, den er ihr verwehrt hatte, als er allein im Krankenhaus im Sterben lag. Was sie zu ihren Söhnen gesagt hatte, um sie zu trösten, war zur unumstößlichen Gewißheit geworden: Manoli würde auf seine Familie achtgeben.
    Das Dorf Lindos stand der jungen Witwe und ihren Kindern bei, doch über kurz oder lang mußten sie sich aus dieser Umarmung lösen. Juliette konnte das Restaurant unmöglich allein führen, und weil sie auf der Insel keine andere Arbeit fand, entschloß sie sich, nach Kalifornien zurückzukehren, wo sie jedenfalls auf die Unterstützung ihrer Eltern zählen konnte. Für die Kinder, die ihr ganzes bisheriges Leben mit bloßen Füßen in den weißen Gassen des Dorfs herumgetollt waren, wo jeder sie kannte und ein Auge auf sie hatte, war die Umstellung gewaltig. Juliette fand eine kleine Wohnung, die Teil eines Kirchenprojekts war, und eine Anstellung in der Book Passage. Sie war noch nicht fertig eingerichtet, da diagnostizierte man bei ihrer Mutter eine unheilbare Krankheit, und wenige Monate später mußte Juliette sie begraben. Im Jahr darauf starb ihr Vater. So viel Tod war um sie gewesen, daß sie, als sie von dem Paar erfuhr, das eine Leihmutter suchte, nicht lange nachdachte und sich in der Hoffnung meldete, dieses Leben in ihr werde sie über dievielen Verluste hinwegtrösten und ihr Wärme geben. Als ich Juliette kennenlernte, war sie von der Schwangerschaft gezeichnet, ihre Beine waren geschwollen und ihre Wangen fleckig, sie hatte Ringe unter den Augen und war sehr müde, aber froh. Sie arbeitete weiter in der Buchhandlung, bis sie auf ärztliche Weisung daheim bleiben mußte, und verbrachte die letzten Schwangerschaftswochen, vom Gewicht ihres Bauchs erdrückt, auf dem Sofa. Aristoteles und Achill hatten in nicht einmal vier Jahren ihren Vater und ihre amerikanischen Großeltern verloren; ihr kurzes Leben war vom Tod geprägt gewesen. Sie klammerten sich an ihre Mutter, die ihnen als einzige geblieben war, in der verständlichen Angst, daß auch sie ihnen noch genommen würde, deshalb wunderte es mich um so mehr, daß Juliette das Risiko dieser Schwangerschaft eingegangen war.
    »Wer sind denn die Eltern der Zwillinge?« wollte ich wissen.
    »Ich kenne sie kaum. Der Kontakt kam über eine Selbsthilfegruppe zustande, mit der ich mich einmal die Woche treffe. Erwachsene und Kinder, die einen Todesfall zu bewältigen haben. Die Gruppe hat uns sehr geholfen, Aristoteles und Achill verstehen jetzt, daß sie nicht die einzigen Kinder ohne Vater sind.«
    »Du hattest mit dem Paar vereinbart, ein Kind auszutragen, nicht zwei. Wieso willst du ihnen

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