Das Siegel der Tage
verkniff sich ein Lächeln.
»Was keine Kunst ist, deine Meßlatte hängt nicht sehr hoch, Willie.«
Jason ist zu einem echten New Yorker geworden, arbeitet in dieser schnellebigsten Stadt der Welt mit Erfolg,hat Freunde, schreibt und hat die gesuchte junge Frau gefunden, die »so vertrauenswürdig ist wie Willie«. Judy hat in Harvard studiert und veröffentlicht im Internet und in Frauenzeitschriften Artikel über Sexualität und Beziehungen. Ihre Mutter ist Koreanerin, ihr Vater Amerikaner, sie ist schön, klug und ähnlich klar auf Unabhängigkeit bedacht wie ich. Die Vorstellung, daß jemand für ihren Lebensunterhalt aufkommt, ist ihr ein Greuel, was auch damit zu tun hat, daß sie mit ansehen mußte, wie ihre Mutter, die kaum Englisch sprach, von ihrem Vater drangsaliert wurde, bis er sie schließlich wegen einer Jüngeren sitzenließ. Judy gewöhnte es Jason ab, das durchlebte Trauerspiel einzusetzen, um junge Frauen zu verführen. Seine Geschichte von der Verlobten, die ihn wegen seiner Schwägerin verlassen hatte, war noch für jede gewünschte Verabredung gut gewesen, eine weibliche Schulter und mehr, um daran Trost zu suchen, hatte ihm nie gefehlt, aber bei Judy verfing diese Methode nicht, denn die hatte früh gelernt, auf eigenen Füßen zu stehen, und nichts übrig für Selbstmitleid. Sie bedauerte, was ihm passiert war, fühlte sich aber nicht deshalb zu ihm hingezogen. Als die beiden sich kennenlernten, lebte sie seit vier Jahren mit einem anderen Mann zusammen, war jedoch nicht glücklich mit ihm.
»Liebst du ihn?« fragte Jason.
»Weiß nicht.«
»Wenn die Frage so schwer zu beantworten ist, dann liebst du ihn wohl eher nicht.«
»Was weißt denn du! Was fällt dir überhaupt ein, das zu sagen!« fuhr sie ihn an.
Die beiden küßten sich, aber dann sagte Jason, er werde sie nicht mehr anfassen, bevor sie den anderen nicht verlassen hätte; er wolle nicht noch einmal wie Dreck behandelt werden. Nach weniger als einer Woche war sie aus der Traumwohnung, in der sie lebte, in ein dunkles und sehr weit vom Zentrum entferntes Loch gezogen – in New Yorkoffenbar der größtmögliche Liebesbeweis. Dennoch dauerte es ziemlich lange, bis die Beziehung der beiden sich festigte, Jason mißtraute den Frauen im allgemeinen und einem Bund fürs Leben im besonderen, schließlich hatten sich seine Eltern, Stiefmütter und -väter ein-, zwei- und sogar dreimal scheiden lassen. Irgendwann sagte Judy zu ihm, er solle sie nicht für das büßen lassen, was Sally ihm angetan hatte. Das und die Tatsache, daß sie ihn liebte, obwohl er sich gegen jede Verbindlichkeit sträubte, rüttelte ihn wach. Endlich konnte er seine Abwehrhaltung aufgeben und über das Vergangene lachen. Heute schreiben Sally und er sich sogar ab und zu E-Mails. »Ich bin froh, daß sie so lange mit Celia zusammen ist; das heißt doch, sie hat mich nicht aus einer Laune heraus verlassen. Etliche Leute haben darunter gelitten, aber am Ende hatte der ganze Schlamassel auch etwas für sich«, sagte Jason zu mir.
Außerdem ist Judy für ihn der anständigste Mensch, den er kennt, jedes Getue und jede Bosheit seien ihr fremd, sagt er. Über die Unmenschlichkeit der Welt ist sie immer aufs neue überrascht, weil sie selbst nie auf die Idee käme, jemandem absichtlich zu schaden. Sie liebt Tiere. Als die beiden sich kennenlernten, führte Judy herrenlose Hunde aus in der Hoffnung, daß jemand sein Herz an ihre Schützlinge verlor. Gerade hatte sie Toby in Obhut, ein jämmerliches Geschöpf, das aussah wie eine haarlose Maus, seinen Urin nicht halten konnte und zuweilen epileptische Anfälle bekam; dann streckte der Hund stocksteif alle viere in die Höhe und schäumte aus dem Maul. Alle vier Stunden mußte er seine Medikamente bekommen, man war wirklich gestraft mit ihm. Es war der vierte Hund, um den Judy sich kümmerte, doch durfte man kaum hoffen, daß jemand sein Herz an Toby den Schrecklichen verlor und ihn bei sich aufnahm, also brachte Judy den Hund zu Jason, damit der beim Schreiben Gesellschaft hatte. Am Ende behielten sie den armen Kerl.
Jason schrieb schon seit über einem Jahr für ein Männermagazin, eins von denen mit farbigen Hochglanzfotos von Mädchen mit lasziv geöffneten Mündern und Schenkeln, als man ihn mit einer Reportage über ein ungewöhnliches Verbrechen beauftragte. Ein junger Mann hatte in der Wüste von New Mexiko seinen besten Freund umgebracht. Die beiden hatten zelten wollen, sich jedoch verirrt, das Wasser war
Weitere Kostenlose Bücher