Das Siegel der Tage
herzurichten, und wachte einen Tag und eine Nacht an deiner Seite, bis sich Ernesto und die übrigen Familienmitglieder, die von weither anreisen mußten, beiuns eingefunden hatten. Wir wollten, daß du sie für diesen letzten Abschied in deinem Bett empfingst, bei uns zu Hause.
Aber zurück zu Sabrina. Nico und Celia riefen uns ins Wohnzimmer, und diesmal blieb Celia stumm, starrte auf ihre Füße, die in Wollsocken und Franziskanerlatschen steckten, und überließ Nico das Wort. Er fing genauso an wie meine Mutter: Willie und ich seien nicht mehr in dem Alter für ein kleines Kind, ich würde sechsundsechzig und Willie einundsiebzig sein, wenn Sabrina fünfzehn wäre.
»Willie ist nicht gerade der geborene Vater, und du, Mama, versuchst Paula durch ein krankes Mädchen zu ersetzen. Würdest du es verkraften, wenn Sabrina nicht durchkommt? Ich glaube kaum. Aber wir beide sind jung, und wir schaffen das. Wir haben alles schon durchgesprochen und sind bereit, Sabrina zu adoptieren«, schloß mein Sohn.
Willie und ich saßen eine lange Weile schweigend da.
»Ihr habt bald drei Kinder …«, brachte ich schließlich heraus.
»Ein Streifen mehr kann dem Tiger doch wurscht sein«, nuschelte Celia.
»Danke, vielen Dank, aber das wäre Wahnsinn. Ihr habt eure eigene Familie und müßt sehen, wie ihr in diesem Land zurechtkommt, das ist schwer genug. Ihr könnt euch nicht um Sabrina kümmern, das ist unsere Sache.«
Unterdessen vergingen die Tage, und hinter unserem Rücken mahlten unaufhaltsam die schwerfälligen Mühlen des Gesetzes. Rebecca, die zuständige Sozialfürsorgerin, war eine Frau, die sehr jung wirkte, aber reichlich Erfahrung besaß. Sie war um ihren Beruf nicht zu beneiden, mußte sich um mißbrauchte und verwahrloste Kinder kümmern, die man von einer Einrichtung in die nächste schob, die adoptiert wurden und dann zurückgegeben, die restlos verschüchtert waren oder voller Wut; kriminelle odertraumatisierte Kinder, die niemals ein einigermaßen normales Leben führen würden. Rebecca kämpfte gegen die Bürokratie, gegen das Phlegma der zuständigen Stellen, gegen Geldmangel und die unabänderliche Schlechtigkeit der anderen, und vor allem kämpfte sie gegen die Zeit. Die fehlte hinten und vorn, um die Fälle eingehend zu prüfen, die Kinder zu besuchen, sie vor den schlimmsten Gefahren zu behüten, sie vorübergehend irgendwo sicher unterzubringen, zu beschützen, ihren Werdegang zu verfolgen. Wieder und wieder landeten dieselben Kinder in ihrem Büro, mit Problemen, die von Jahr zu Jahr gravierender wurden. Nichts wurde gelöst, alles mußte aufgeschoben werden. Nachdem sie den Bericht auf ihrem Schreibtisch gelesen hatte, entschied Rebecca, daß Sabrina, wenn das Krankenhaus sie entließe, in einem staatlichen Heim für Kinder mit schweren Gesundheitsproblemen untergebracht würde. Sie füllte die entsprechenden Anträge aus, die von Schreibtisch zu Schreibtisch wanderten, bis sie den zuständigen Richter erreichten und der sie unterschrieb. Sabrinas Los war entschieden. Als ich davon erfuhr, jagte ich zu Willies Kanzlei, holte ihn aus einer Besprechung und bombardierte ihn auf spanisch, er solle auf der Stelle mit diesem Richter sprechen, notfalls eine Klage anstrengen, wenn Sabrina in ein Kinderheim müßte, würde sie das niemals überleben. Willie setzte sich in Bewegung, und ich kehrte nach Hause zurück, um, zitternd, die Ergebnisse abzuwarten.
Sehr spät an diesem Abend kam mein Mann nach Hause, und er war um Jahre gealtert. Nie hatte ich ihn derart geschlagen gesehen, noch nicht einmal, als er die halbtote Jennifer aus einem Motel hatte holen müssen, sie in sein Jackett hüllte und zu dem philippinischen Arzt ins Krankenhaus brachte. Er erzählte mir, er habe mit dem Richter gesprochen, mit der Sozialfürsorgerin, den Ärzten und sogar mit einem Psychiater, und alle hätten ihm versichert, der Zustand der Kleinen sei zu labil. »Wir können sie nicht zuuns nehmen, Isabel. Wir haben nicht die Kraft, uns um sie zu kümmern, und sind nicht stark genug, es auszuhalten, wenn sie stirbt. Ich kann das nicht«, und damit vergrub er das Gesicht in den Händen.
Zigeunerin aus Leidenschaft
Willie und ich hatten eine dieser Auseinandersetzungen, die in die Geschichte eines Paares eingehen und einen eigenen Namen verdienen wie die »Schlacht um Arauco« – so nannten wir in meiner Familie einen Feldzug, den meine Eltern vier Monate gegeneinander führten –, wenn ich jedoch heute, nach all den
Weitere Kostenlose Bücher