Das Siegel der Tage
für sie, fast ausschließlich Flüchtlinge aus Asien. Manche hatten Unvorstellbares durchgemacht, wie an ihren grauenvollen Narben und dem gehetzten Blick zu erkennen war. Nach außen wirkten sie sehr sanft, doch unter der Oberfläche mußte ihre Verzweiflung wie Lava brodeln. Zwei von ihnen nutzten, unabhängig voneinander, die hierzulande bestehendenMöglichkeiten, an Waffen zu kommen, kauften sich eine Maschinenpistole und ermordeten rasend vor Eifersucht die komplette Familie ihrer Ehefrauen. Danach erschossen sie sich selbst. Tabra ging zu diesen Massenbestattungen ihrer Angestellten, und danach mußte sie ihre Werkstatt durch Zeremonien »reinigen«, damit die blutüberströmten Gespenster nicht die Vorstellungswelt derjenigen belagerten, die mit dem Leben davongekommen waren.
Che Guevara strahlte einen von Plakaten an den Werkstattwänden an mit seinem unwiderstehlichen Schalk, die schwarze Baskenmütze in der Stirn. Als Tabra einmal mit ihrem Sohn Tongi Kuba bereiste, besuchte sie zusammen mit einem früheren Anführer der Black Panther Party das Denkmal für den Che in Santa Clara; im Gepäck hatte sie die Asche eines Freundes, den sie zwanzig Jahre geliebt hatte, ohne es jemandem einzugestehen, und als sie oben auf dem Hügel stand, streute sie seine Asche in alle Winde. So erfüllte sich sein Traum, dieses Land zu besuchen. Weltanschaulich bewegt sich meine Freundin Tabra erheblich weiter links als Fidel Castro.
»Du bist in den Vorstellungen der sechziger Jahre steckengeblieben«, sagte ich einmal zu ihr.
»Und stolz drauf«, war ihre Antwort.
Das Liebesleben meiner schönen Freundin ist so ausgefallen wie ihre Wahrsagerinnengewänder, ihr loderndes Haar und ihre politischen Ansichten. Jahre der Therapie haben sie gelehrt, Männern, die sich wie ihr samoaischer Gatte als gewalttätig erweisen könnten, aus dem Weg zu gehen. Sie hat sich geschworen, daß keiner sie mehr schlagen wird, besitzt jedoch eine Schwäche für halsbrecherische Manöver am Abgrund. Anziehend findet sie nur Männer, die vage gefährlich wirken, und für solche ihrer eigenen Hautfarbe hat sie nichts übrig. Tongi, der zu einem sehr gutaussehenden Hünen herangewachsen ist, will vom Gefühlsschlamassel seiner Mutter nichts wissen. In manchem Jahr brachtees Tabra über Kontaktanzeigen in verschiedenen Zeitungen auf hundertfünfzig Verabredungen, aber die wenigsten gediehen über die erste Tasse Kaffee hinaus. Dann ging Tabra mit der Zeit und ist heute bei mehreren Internetpartnervermittlungen registriert, die verschiedene Schwerpunkte haben: »alleinstehende Demokraten«, die zumindest die Abneigung gegen Präsident Bush teilen, »Amigos«, ausschließlich für Latinos, die Tabra mag, obwohl die meisten bloß ein Visum brauchen und sie zum Katholizismus bekehren wollen, und »alleinstehende Grüne«, die die Mutter Erde lieben und nichts auf materielle Güter geben, also nicht arbeiten. Sie bekommt Anträge von blutjungen Don Juans, die sich gern von einer reiferen Dame aushalten lassen würden. Die Fotos sagen alles: geölte braune Haut, Oberkörper frei, und die Hose steht ein paar Fingerbreit offen und läßt ein wenig Schamhaar sehen. Die E-Mail-Dialoge klingen ungefähr so:
TABRA: Ich gehe aus Prinzip nicht mit Männern aus, die jünger sind als mein Enkel.
JUNGE: Zum Ficken bin ich alt genug.
TABRA: Würdest du es wagen, so mit deiner Großmutter zu reden?
Taucht einer auf, der vom Alter her besser zu ihr paßt, entpuppt er sich als Demokrat, der bei seiner Mutter wohnt und sein Erspartes in Form von Silberbarren unter der Matratze versteckt. Ungelogen: Silberbarren, wie die Piraten in der Karibik. Daß besagter Demokrat bei der ersten – und einzigen – Verabredung eine derart intime Information ausplauderte wie den Ort, an dem sein Kapital lagert, muß einen wundern.
»Hast du keine Angst, dich mit wildfremden Leuten zu treffen, Tabra? Du könntest an einen Kriminellen oder Perversen geraten«, bemerkte ich einmal, als sie mir einenzwielichtigen Typ präsentierte, an dem außer der kubanischen Comandante-Kappe nichts anziehend war.
»Ich brauche wohl noch ein paar Jahre Therapie«, meinte sie damals kleinlaut.
Kurz zuvor hatte sie einen Maler beauftragt, ihre Wohnung zu streichen. Er hatte einen schwarzen Wuschelkopf, wie sie ihr gefallen, deshalb lud sie ihn zu sich in den Whirlpool ein. Was sie besser hätte bleiben lassen, weil der Maler sie daraufhin wie seine Ehefrau zu behandeln begann; sie sagte, er solle
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