Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
die Hand auf den Arm.
Der Ritter von Ehrenberg lässt den Kopf hängen. Nein, nicht nur den Kopf. Seine Schultern krümmen sich nach vorn, sein Rücken ist gebeugt. Es ist, als wäre alle Kraft aus ihm gewichen. »Der Herr hat uns verlassen«, sagt er leise.
»Nein!«, widerspricht der Mann in dem prächtigen roten Brokatgewand, den Juliana schon öfter auf Ehrenberg und in Wimpfen gesehen hat. Sie weiß, dass er Gerold von Hauenstein heißt. Früher war er ein Ritter, nun aber gehört er zu den Stiftsherren von Sankt Peter im Tal. Er kommt in letzter Zeit häufig zum Nachtmahl, doch sie muss sich stets mit Gerda zurückziehen, bevor die Speisen aufgetragen werden, und bekommt ihren Teller in der Kemenate vor der Kohlenpfanne gereicht.
Juliana findet ihn sympathisch, obwohl er noch nie das Wort an sie gerichtet hat. Aber sie hat ihn beobachtet und mag sein schmales Gesicht, das dichte, graue Haar und die grünen Augen. Seine Stimme ist tief und wohlklingend und verliert anscheinend niemals die Ruhe. Am liebsten betrachtet sie jedoch seine langen, schmalen Hände mit den gepflegten Fingernägeln und einem großen Ring mit grünem Edelstein. Welch Unterschied zu den Rittern und Waffenknechten! Sicher kann er schreiben und zeichnen. Solch wundervolle Buchstaben malen, wie sie jede Seite des Buches zieren, in dem die Mutter jeden Abend liest. Meist für sich, doch manches Mal trägt sie der Tochter eine Geschichte oder einen der Psalme vor.
»Ihr müsst mir widersprechen«, sagt der Vater mit einem
gequälten Lächeln. »Ihr seid nun ein Mann der Kirche. Und dennoch, wie kann ich glauben, dass der Herr noch mit Wohlgefallen auf uns herabsieht, wenn er uns doch alles nimmt? Erst zu Weihnachten ist uns ein Knabe tot zur Welt gekommen, und nun hat ein Fieber mir meinen Erstgeborenen dahingerafft.«
»Ich weiß, es ist hart«, stimmt ihm der Stiftsherr mit Wärme in der Stimme zu. »Wir Menschen sind zu klein, um die Wege des Herrn zu verstehen. Und dennoch hat er Euch nicht alles genommen. Euer Weib ist gesund und kräftig und kann Euch weitere Söhne gebären – und Ihr habt ein Kind, das den ersten gefährlichen Jahren entwachsen ist und prächtig gedeiht!«
»Ein Mädchen«, wirft der Vater zögernd ein. »Es ist sicher gut, auch Töchter zu haben«, sagt er, den Blick fest auf den Stiftsherrn gerichtet. »Sie ist ein liebes Kind, wenn ich jedoch einen Sohn hätte, dann würde ich Euch bitten, ihn in Eure Obhut zu nehmen, ihn zu unterrichten, ihm Lesen und Schreiben beizubringen und an Eurer Weisheit teilhaben zu lassen, an der Geschichte der Vergangenheit. Aber so …« Er seufzt.
Unmut steigt in Juliana auf. Der Vater und der Stiftsherr reden so, als sei sie gar nicht da. Es kümmert sie nicht, dass sie jedes Wort hört – oder glauben sie etwa, sie wäre noch so klein, dass sie nichts verstünde? Am Ende haben die Männer sie einfach vergessen. Da steht sie mitten im Hof der kaiserlichen Pfalz, die Sonne lässt ihre Locken golden glänzen, und doch scheint sie unsichtbar – weil sie unwichtig ist? Nur ein Mädchen?
Nun ist es heißer Zorn, der in ihr brodelt und sie die Fäuste ballen lässt. Sie ist nicht froh darüber, dass der Bruder gestorben ist, obwohl er sie nun nicht mehr im Dunkeln erschrecken oder an ihren Zöpfen ziehen kann. Manchmal ist sie sogar richtig traurig und weint ein wenig um ihn. Auch Wolf, der Page des Vaters, der seit drei Jahren mit auf Ehrenberg wohnt, scheint den Kameraden schmerzlich zu vermissen. Ob er nun mit ihr spielen wird? Bisher haben die beiden Jungen keinen Wert darauf gelegt, das Mädchen auf ihre Streifzüge mitzunehmen.
Plötzlich spürt sie den Blick des Stiftsherrn auf sich ruhen. Sie sieht in seine grünen Augen, die sie forschend betrachten.
»Ich kann auch lesen und schreiben lernen!«, stößt sie hervor. »Und ich will die Geschichten hören, auch wenn ich nur ein Mädchen bin!«
»Juliana!«, ruft der Vater ärgerlich. »Wie kannst du dich erdreisten, so respektlos mit Stiftsherr von Hauenstein zu sprechen?« Seine Stirnfalten zeigen Sturm an, und seine Lippen sind zusammengepresst, der Kirchenmann jedoch blickt weiter freundlich drein.
»So, Fräulein Juliana, du willst also lesen und schreiben lernen.«
»Und Geschichten hören«, erinnert sie ihn rasch, damit er diesen Teil nicht vergisst.
»Und Geschichten hören«, wiederholt Gerold von Hauenstein und lächelt sie an, dass die grünen Augen strahlen. Der Ritter von Ehrenberg will seine Tochter
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