Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
Warum kommst du nicht mit?«
Wolf zieht eine Grimasse. »Wozu soll das gut sein? Sich hinter staubigen Wälzern vergraben und lateinische Worte faseln? Glaubst du, ich will Pfaffe werden? Ich bin ein Ritter!«
»Du wirst einmal einer«, verbessert sie ihn. »Trotzdem kann es nicht schaden, wenn du etwas lernst. Ich finde es herrlich!« Ihre blauen Augen glänzen. »Welch spannende Geheimnisse uns die Bücher offenbaren, wenn wir die Zeichen, in denen sie verfasst sind, erst einmal zu deuten wissen.«
»Und wann bist du damit fertig?«, fragt der Freund. »Du machst das nun schon«, er zählt an den Fingern ab, »schon vier Sommer lang.«
Juliana schüttelt den Kopf. »Niemals!«
Längst hat sie viele Tage, ja vielleicht sogar schon Monate über den Büchern oder mit der Feder in der Hand verbracht. Sie kann inzwischen Lateinisch lesen und schreiben, und ihr Französisch wird mit jedem Tag besser. Der Stiftsherr von Hauenstein hat ihr Geschichten erzählt und viele Bücher mit ihr durchgelesen.
»Du kannst das erst verstehen, wenn du selbst beginnst, den Geheimnissen nachzuspüren. Ich werde nie damit aufhören, denn das ist die Sonne meiner Tage!« Sie dreht sich um und läuft über den Burghof auf die beiden gesattelten Pferde zu. Ein Waffenknecht des Vaters wird sie heute nach Wimpfen begleiten.
»Und ich? Was ist mit mir?«, ruft der Junge ihr nach. Sie hört ihn nicht. Er sieht zu, wie sie sich in den Sattel heben lässt und dann mit dem Burgmann durch das Tor hinausreitet. Ein paar weitere Brennnesseln fallen seinen Stockhieben zum Opfer.
»Hast du nicht auch einmal gesagt, ich sei deine Sonne?«, brummt er unwillig, als der Hufschlag bereits im Zwinger verklingt.
Um die Mittagszeit erreichen die Reiter aus Ehrenberg die Talstadt von Wimpfen. Juliana läuft die Stufen zu der Stube hinauf, in der der Stiftsherr seine Bücher und Papiere aufbewahrt
und in der er oft stundenlang – mit der Feder in der Hand – über einem Pergament brütet. Auch heute sitzt er an seinem Sekretär, die Stirn in Falten gelegt, die linke Hand am Tintenfass, die Finger der rechten am Federkiel.
»Ich bin da!«, ruft Juliana und lässt die Tür hinter sich zufallen. Gerold von Hauenstein schreckt hoch. Die Stirn glättet sich, und ein Lächeln hebt seine Mundwinkel.
»Wie könnte mir das entgangen sein? Dein eiliger Schritt ist bereits vom Marktplatz her zu hören.«
Röte überzieht die Wangen des Mädchens. »Das ist nicht möglich. Wir sind bis vor die Tür geritten.«
Gerold von Hauenstein legt die Feder aus der Hand, rollt das Pergament zusammen und erhebt sich. Er trägt es zu einer kleinen Truhe hinüber, verstaut es sorgfältig darin und schließt den Deckel.
»Nun, womit werden wir uns heute beschäftigen? Wir haben uns zwei Wochen lang nicht gesehen.«
»Fünfzehn Tage und achtzehn Stunden«, verbessert ihn das Mädchen. »Das Wetter war so fürchterlich und die Wege zu sehr aufgeweicht, als dass mich die Mutter hätte ziehen lassen.«
Der Kirchenmann zieht seine ergrauten Augenbrauen zusammen. »Fünfzehn Tage und achtzehn Stunden? Du scheinst die Zahlen zu lieben. Also heute die Magie der Zahlen und die Kunst der Geometrie?«
Juliana schüttelt den Kopf. »Nein, wir haben über die Kaiser und Könige in Wimpfen gesprochen, in der Zeit, als der Bischof von Worms nicht mehr Herr der Stadt war. Ihr wolltet mir von König Heinrich erzählen, der wohl lange Zeit in Wimpfen weilte und der sich dann in unrühmliche Gefangenschaft begeben musste.«
Gerold von Hauenstein nickt. »Ja, ich erinnere mich.« Er tritt an das hölzerne Bord, auf dem eine ganze Reihe von Büchern stehen, während Juliana erwartungsvoll auf einem Scherenstuhl Platz nimmt.
»König Heinrich VII.«, wiederholt der Stiftsherr. »Welch
tragische Geschichte. Wimpfen erfreute sich der Gunst des jungen Königs, der ihr einen prächtigen Forst verehrte und seinen Hofstaat auf der Pfalz einrichtete. Es müssen glänzende Jahre gewesen sein. Stell es dir vor, das rege Leben auf der Pfalz mit dem königlichen Gefolge, den Rittern und Damen – nicht nur ein paar gelangweilte Burgmannen wie heute.« Gerold von Hauenstein seufzt und sieht für ein paar Augenblicke in die Ferne so, als habe er die Zeit selbst erlebt.
»Nun, doch wie du bereits weißt, hat er sich mit seinem kaiserlichen Vater überworfen und dachte gar nicht daran, die Friedenshand auszustrecken. Alle Vermittlungsversuche scheiterten, und der Kaiser war so erzürnt, dass er
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