Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
verließen.
»Das Cruz de Ferro«, nahm Pater Bertran ihre Frage auf und patschte ungerührt durch die Pfützen. Feine Wasserfäden rannen von seiner Kapuze, über die Schultern und den Mantel herab.
»Es ist schon sehr alt. Manche behaupten, diesen Brauch habe es schon gegeben, bevor sich die Menschen hier zu unserem
Herrn Jesus bekannten. Ich weiß es nicht. Jedenfalls tragen schon viele hundert Jahre Pilger und andere Wanderer, die den Pass queren, einen Stein vom Fuß des Berges oder gar von ihrer Heimat dort hinauf und legen ihn zu Füßen des eisernen Kreuzes, das auf einem langen Holzstamm befestigt ist. Mit diesem Stein legen sie symbolisch die Last ab, die auf ihrer Seele liegt, ihre Sorgen und Nöte. Inzwischen bilden die Steine schon einen eigenen kleinen Berg, aus dessen Spitze das Kreuz emporragt.« Juliana bückte sich und hob einen Steinbrocken auf.
»So groß sind deine Sorgen und Nöte?«, fragte Bruder Rupert spöttisch. Das Mädchen wog den Stein in seiner Hand.
»Überlege es dir gut, ob du ihn dort hinaufschleppen willst!«
»Überqueren wir den Pass heute noch?«
Pater Bertran wiegte den Kopf hin und her. »Nein, bei diesem Wetter nicht. Wir können froh sein, wenn wir Rauanal 25 vor der Nacht erreichen. Die Templer werden uns Schutz gewähren. Der Pass ist gefährlich, doch seit die Ritter sich in Rauanal niedergelassen haben, werden die Überfälle weniger.«
»Dort oben gibt es sicher auch Wölfe, nicht?«, vermutete das Mädchen. Der Augustinerpater nickte.
»Ja, auch ein Grund, der es nicht ratsam erscheinen lässt, in die Dunkelheit zu kommen.«
»Deshalb spute dich, Johannes«, fügte Bruder Rupert hinzu. »Und halte uns nicht mit Felsbrocken auf, aus denen du ein halbes Haus bauen könntest!«
Das war natürlich grob übertrieben, dennoch war der Stein schwer und rutschte ihr, regennass wie er war, immer wieder unter dem Arm durch. Als er das dritte Mal zu Boden fiel, ließ Juliana ihn liegen. Sie griff sich stattdessen einen kleinen weißen, der wie ein Flusskiesel abgerundet war, und schob ihn in die Tasche.
»Ah, so schnell können sich Sorgen und Nöte verringern«,
spottete Bruder Rupert. Juliana antwortete nicht, sondern beschleunigte ihren Schritt, um Pater Bertran einzuholen, der schon wieder ein ganzes Stück voraus war.
Immer dichter wurde der Bewuchs, die Bäume zu beiden Seiten höher. Säumten zu Anfang nur Ginster und ein paar Steineichen ihren Weg, so schritten sie nach Mittag durch dichte Wälder von Kiefern und Eichen immer steiler bergan. Zwei Weiler passierten sie, doch außer ein paar Hunden, die ihnen nachkläfften, war kein Lebewesen zu sehen. Endlich ließ der Regen nach, und als er aufhörte, waren die Bäume und Büsche noch triefendnass. Überall glucksten und murmelten die kleinen Rinnsale, die dem nächsten Bach zueilten. Pater Bertran erzählte, dass die Römer hier in der Nähe Stollen in den Fels getrieben hatten, um Erze abzubauen.
»Erze? Um Eisen zu gewinnen?«, fragte Juliana gerade, als Bruder Rupert unvermittelt vor ihr stehen blieb. Das Mädchen stieß gegen seinen breiten Rücken.
»Verzeiht, ich wollte nicht – was ist?«
»Psst, bewegt euch nicht und seid ruhig!« Geduckt huschte er ein paar Schritte zurück und verschwand im Wald. Pater Bertran und das Mädchen standen allein auf dem Weg und sahen sich verwundert an. Nichts war zu hören außer ein leises Tropfen von den Bäumen.
»Was um alles in der Welt ist in ihn gefahren?«, fragte Juliana und starrte auf die Büsche, in denen der Bettelmönch verschwunden war. Nichts regte sich. »Pater, was meint Ihr?«
Was dann geschah, ging so schnell, dass sie es nicht recht erfassen konnte. Juliana hörte rasche Schritte. Jemand rannte. Der Pater schrie. Sie drehte sich zu ihm um und sah sein verzerrtes Gesicht, den Mund zum Schrei geöffnet. Und sie sah zwei Gestalten aus den Büschen brechen, die offensichtlich nichts Gutes mit ihnen im Sinn hatten.
»Hinter dir!«, kreischte der Pater, aber noch ehe Juliana sich umdrehen konnte, fuhr ein Blitz durch ihren Sinn, und ein flammender Schmerz zuckte durch Kopf und Schulter. Die
Baumkronen drehten sich, der braune Weg kam auf sie zu. Sie spürte noch, wie sie auf dem Boden aufschlug. Dann war alles dunkel.
36
Geschichten aus der Vergangenheit
Wimpfen im Jahre des Herrn 1298
»G uter Freund, ich kann Eure Trauer verstehen, aber Ihr dürft nicht in der Trübsal untergehen!« Der Kirchenmann legt dem Vater freundschaftlich
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