Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
mit seiner Ritterschaft aus Italien heranreiste, um den trotzigen Sohn in die Knie zu zwingen. Heinrich unterwarf sich – aber zu spät. Der Vater führte ihn als Gefangenen zurück nach Italien, wo Heinrich sieben Jahre später starb.« Er zog ein Buch aus der Reihe hervor und schlug es auf. »Hör, was uns der Chronist dazu berichtet.« Juliana legt den Kopf ein wenig schief und faltet die Hände um ihre Knie, wie immer, wenn sie mit Aufmerksamkeit ihrem Gönner und Lehrmeister lauscht.
»Tapfer, unbeugsam, stolz«, sagt Juliana langsam. »Die Tugenden eines wahrlich großen Ritters. »Doch ist eine Tugend immer eine Tugend? Kann sie nicht auch zum Fehler werden? Zum Verhängnis?«
Der Stiftsherr setzt sich ihr gegenüber und streicht mit seinen schlanken Fingern über eine Seite des Buches, auf der, neben dem lateinischen Text, das Bild eines Ritters, der mit seinem Schwert gegen einen Riesen kämpft, in bunten Farben gemalt ist.
»Ja, Tugend ist nicht absolut. Sie muss sich an einer Tat oder einer Situation messen lassen. Kennst du schon die Geschichte des Feldzuges von Karl dem Großen nach Hispanien? Der Kampf und Tod seines treuen Ritters Roland? Ihm wurden zu viel Tapferkeit und Stolz zum Verhängnis.«
Juliana schüttelt den Kopf. »Wo liegt Hispanien? Ist das weit entfernt?«
Der Dekan holt eine große Pergamentrolle und streicht sie auf dem Tisch glatt. »Sieh, das sind die Grenzen des Reiches heute. Dort im Westen liegen Burgund, das Reich des Franzosenkönigs und Aquitanien. All das vereinigte Karl der Große unter seiner Krone. Doch hier im Süden, wo ein Gebirge, das sie die Pyrenäen nennen, Hispanien vom Rest der Welt trennt, herrschten die Muselmanen, Sarazenen, wie heute und damals auch in der heiligen Stadt Jerusalem. Nur dort oben am Meer, in Asturien, lebten noch ein paar Christen und beteten um Beistand, die Ungläubigen zu vertreiben.«
Und dann zog Karl der Große über das Gebirge, um die Sarazenen zu vertreiben?« Der Stiftsherr nickt.
Juliana fährt mit dem Finger sanft über die Karte, von Alemannien aus über den Rhein und die Rhône weiter nach Westen bis zu dem Gebirgszug der Pyrenäen.
»Erzählt mir von diesem Land!«, fordert sie Gerold von Hauenstein auf. »Und von Ritter Roland, dem seine Tugend zum Verhängnis wurde.«
37
Rauanal
S ie schwebte. Ihr Körper erhob sich und strebte dem Licht entgegen, das sie warm umfing. Es lockte sie, und sie gab sich auch wirklich Mühe, dem Ruf zu folgen, aber irgendetwas hielt sie fest. Der Schmerz zwang sie zurück auf den Boden. Er umschlang sie und band sie fest. Das Mädchen stöhnte und bäumte sich auf, doch die Fesseln wollten nicht nachgeben. Ein Gewicht drückte sie nieder. Flammen zuckten rot um ihre Lider. Sie hörte sich selbst stöhnen und dann eine Stimme, die sie zusammenzucken ließ.
»Juliana, beruhige dich, es wird alles gut! Bleibe still liegen, dein Körper braucht Ruhe.«
Das Mädchen runzelte verwirrt die Stirn. Etwas war falsch. Diese Stimme gab es nicht mehr. Diesen Klang hatte sie einst gehört, aber nun war er verschwunden und gehörte nicht mehr zu ihrem Leben. Der Freund war weggegangen und hatte sie verlassen. – Und noch etwas stimmte nicht.
»Juliana, kannst du mich hören?«
Juliana? Nein, sie war Johannes, der Knappe, der nach Santiago pilgerte. Das Ritterfräulein war in Wimpfen zurückgeblieben. Die Stirn entspannte sich, ihre Fäuste erschlafften. Es war nur ein Traum, in dem sich Altes und Neues vermischte, Wunsch und Furcht aufeinander trafen. Bald würde sie in einer der Herbergen am Weg erwachen, ihre Schuhe schnüren und ihr Bündel über die Schulter werfen, um weiter den Spuren des Vaters zu folgen – wenn nötig bis zu Sankt Jakobs Grab.
Warum nur ließen sich die Schmerzen nicht verscheuchen? Sie brauchte ihren Schlaf und die Erholung, um kräftig genug
für einen langen Tag auf der Landstraße zu sein. Aber die Stimme der Vergangenheit wollte nicht weichen.
»Juliana, öffne die Augen, wenn du mich hören kannst. Bitte, sprich mit mir, wenn du mich verstehst.«
Vielleicht würde er sie in Ruhe lassen, wenn sie seinem Drängen nachgab? Zaghaft hob sie die Lider und wartete, bis sich die verschwommenen Flecken von Licht und Schatten zu einem kleinen Raum mit einem bogenförmigen Fenster schieden, durch das Sonnenlicht hereinfiel und einen Teil der Mauersteine schmerzhaft grell aufleuchten ließ. Sie stöhnte und schloss die Augen bis auf einen schmalen Spalt. Da hing ein
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