Das Siegel des Templers: Roman (German Edition)
wegziehen, aber der Kirchenmann gebietet ihm Einhalt. Er betrachtet das Kind aufmerksam, das den Blick halb trotzig, halb erwartungsvoll erwidert.
»Die Mutter kann lesen, und sie war früher auch einmal ein Edelfräulein«, fügt Juliana hinzu, um ihrem Ansinnen seine Ungeheuerlichkeit zu nehmen.
»Meinst du denn, du kannst dir diese schwierigen Dinge merken?«, fragt der Stiftsherr. »Mit dem Lesen und Schreiben ist das nicht so einfach, wie du dir das jetzt vielleicht vorstellst. Man braucht Geduld, muss viele Stunden still sitzen und üben.«
Juliana sieht ihn mit ernster Miene an und nickt. »Ja, das weiß ich. Ich höre der Mutter immer ganz genau zu und habe mir alle Geschichten gemerkt. Soll ich Euch das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen erzählen oder den Psalm aufsagen, wer alles selig werden wird?«
Wieder greift des Vaters Hand nach ihrem Arm. »Nun ist es aber genug, Juliana. Wenn du den Herrn von Hauenstein noch
länger belästigst, dann werde ich dich nicht mehr mit in die Pfalz nehmen. Dann wirst du in Zukunft bei Gerda im Haus bleiben.«
»Sie belästigt mich nicht, guter Freund«, widerspricht der Kirchenmann. »Ihr habt eine interessante Tochter, die offensichtlich mit einem festen Willen gesegnet ist und – trotz ihrer jungen Jahre – bereits genau weiß, was sie will. Das gefällt mir. Ich werde sie unterrichten.«
»Was?« Der Vater weicht einen Schritt zurück und starrt Gerold von Hauenstein an. »Ich verstehe nicht.«
»Wenn es Euch recht ist, Ritter, dann werde ich Eure Tochter unterrichten, ihr Lesen und Schreiben beibringen und sie die Geschichte unserer Vorfahren lehren.«
»Aber sie ist ein Mädchen«, stottert der Ehrenberger verdutzt.
Gerold von Hauenstein schmunzelt. »Glaubt mir, Ritter, das ist mir nicht entgangen. Ihr könnt sie mit ihrer Kinderfrau zu mir schicken, wenn Ihr in Wimpfen weilt.«
Juliana ist es, als würde sich der Hof mitsamt dem Palas, der Kapelle und den drei hohen Türmen um sie herum zu drehen beginnen. Hat sie seine Worte recht verstanden? Will der hohe Kirchenherr mit den gepflegten Händen und dem wertvollen Gewand sie wirklich unterrichten, oder erlaubt er sich nur einen grausamen Scherz mit einem Mädchen? Sie kneift die Augen zusammen und mustert voller Misstrauen seine Züge, in denen sie weder Spott noch Falschheit entdecken kann.
»Gut«, sagt sie zögernd. »Können wir gleich anfangen?«
»Warum die Eile? Fürchtest du, ich könnte meine Worte vergessen?«
Das Kind nickt. »Ja, vielleicht habt Ihr nur mit mir gescherzt, und morgen erinnert Ihr Euch nicht mehr an Eure Worte. Dann bleibt mir wenigstens das, was Ihr mir heute beigebracht habt.«
Gerold von Hauenstein beugt sich ein wenig nach vorn und fasst sie bei den Händen. Wie schön sich das anfühlt, von diesen Fingern umschlossen zu werden. Sie sind nicht so schwielig
grob wie die des Vaters, nicht so feucht und weich wie die des Beichtvaters, und nicht so flatternd leicht wie die der Mutter. Der Griff ist warm und fest und flößt ihr noch mehr Vertrauen ein als seine Worte.
»Fräulein Juliana von Ehrenberg, ich verspreche dir, dich zu unterrichten, wann immer meine und deine Zeit es erlauben. Ich werde dir beibringen, was ich weiß, solange du eifrig lernst und auf meine Worte achtest – und solange dein Vater keine Einwendungen dagegen hat«, fügt er schnell hinzu und sieht den Ritter fragend an. Der scheint noch immer ein wenig verwirrt, nickt aber zustimmend. »Gut, dann sehe ich dich morgen nach der Terz. Ich werde zu euch kommen, da ich anschließend in der Bergstadt zu tun habe.«
»Werdet Ihr ein Buch mitbringen?«, will Juliana wissen und sieht ihn mit einem Blick an, als habe sie nach süßem Kuchen gefragt.
Der Kirchenmann nickt. »Aber ja, ein dickes Buch, das die fleißigen Hände eines Mönchs geschrieben haben und in dem wir viel Weisheit und viele spannende Geschichten finden werden.«
»Gut, morgen nach der Terz«, stimmt das Kind mit ernster Miene zu. »Ich werde Euch erwarten.«
Wimpfen im Jahr des Herrn 1302
Wolf sieht seine Spielgefährtin missmutig an. Ihr Strahlen wirkt in keiner Weise ansteckend auf ihn. Nein, es scheint seine schlechte Laune nur noch zu vertiefen.
»Musst du unbedingt nach Wimpfen reiten?«, murrt er und schlägt mit einem langen Stock ein paar frischen grünen Brennnesseln die Spitzen ab.
»Aber ja!«, nickt das Mädchen noch immer freudestrahlend. »Mein Unterricht wird endlich fortgesetzt.
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