Das Sigma-Protokoll
den verkohlten Rest meines Körper. Aber mein Puls schlug noch. Er brachte mich
in ein winziges, dreißig Kilometer entferntes Provinzkrankenhaus, tischte den Ärzten eine Geschichte von einer umgefallenen Petroleumlampe auf und gab einen falschen Namen an. Er hatte sofort geschaltet. Sollten meine Feinde erfahren, dass ich überlebt hatte, würden sie es noch mal versuchen. Ich blieb monatelang in diesem Hospital. Meine Haut war zu fünfundsiebzig Prozent verbrannt. Normalerweise ein hoffnungsloser Fall.« Er setzte sich in einen Holzstuhl mit hoher Rückenlehne. Das ungewohnt lange Sprechen hatte ihn anscheinend völlig erschöpft.
»Aber Sie haben überlebt«, sagte Ben.
»Ich hätte nicht mal genügend Kraft gehabt, mit dem Atmen aufzuhören«, sagte Chardin. Er hielt wieder inne. Selbst die Erinnerung an die Schmerzen verursachte ihm Schmerzen. »Sie wollten mich in ein Krankenhaus in einer größeren Stadt verlegen. Aber das passte mir natürlich nicht. Es hätte ohnehin nichts genützt. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn der Wachzustand keine andere Bedeutung hat, als Schmerzen zu empfinden?«
»Und doch haben Sie überlebt«, sagte Ben noch einmal.
»Die Qualen waren jenseits all dessen, was ein Mensch ertragen sollte. Das Wechseln der Verbände war eine Tortur, der Gestank des verbrannten Fleisches bestialisch. Ist mehr als einmal vorgekommen, dass Pfleger oder Schwestern sich in meinem Zimmer übergeben haben. Die nächste Tortur wartete, als sich das Granulationsgewebe ausgebildet hatte. Kontraktion. Die Narben schrumpften, und die Schmerzen kamen wieder. Heute noch sind die Schmerzen, die ich jede Sekunde des Tages ertragen muss, stärker als alles, was ich aus meinem Leben vor dem Unfall kannte. Ich vegetiere nur noch. Mein Anblick ist kaum zu ertragen, stimmt’s? Ich kann ihn selbst nicht ertragen.«
Das Wichtigste war jetzt, darüber war sich Anna im Klaren, einen persönlichen Kontakt zu dem Mann herzustellen. »Sie haben außergewöhnliches Durchhaltevermögen bewiesen. Über den Willen zu überleben steht nichts in medizinischen Lehrbüchern. Sie haben das Feuer überlebt. Und Sie haben die Strapazen danach überlebt. Etwas in Ihrem Innern hat gekämpft, weil es leben wollte. Das kann doch nicht alles umsonst gewesen sein.«
Chardin antwortete mit ruhiger Stimme. »Ein Dichter ist mal gefragt worden: >Wenn Ihr Haus in Flammen stünde, was würden Sie retten?< Und er sagte: >Ich würde das Feuer retten. Ohne Feuer gäbe es nichts.<« Chardin lachte. Es klang wie ein tiefes, beunruhigendes Grollen. »Schließlich gäbe es ohne Feuer keine Zivilisation. Allerdings ist es auch ein Werkzeug der Barbarei.«
Anna nahm die eine verbliebene Patrone aus dem Magazin und gab Chardin die Waffe zurück. »Wir brauchen dringend Ihre Hilfe«, sagte sie.
»Sehe ich aus wie jemand, der anderen helfen kann? Ich kann ja nicht mal mir selbst helfen.«
»Wir sind Ihre einzige Chance, wenn Sie Ihre Feinde zur Rechenschaft ziehen wollen«, sagte Ben düster.
»Für so eine Tat kann man sich nicht rächen. Nur weil ich meinen Rachegelüsten nachgebe, werde ich nicht länger leben.« Er zog einen kleinen Plastikzerstäuber aus dem Innern seiner Robe und sprühte sich eine Flüssigkeit auf die Augen.
»Sie haben mit Trianon jahrelang einen der größten petrochemischen Konzerne geleitet«, sagte Ben. Er wollte Chardin beweisen, dass sie sich die grundlegenden Fakten beschafft hatten und dass sie es ernst meinten. Nur so würden sie ihn zur Mitarbeit bewegen können. »Einmal ein Konzernlenker, immer ein Konzernlenker. Sie waren Emil Ménards rechte Hand, das Gehirn, das um die Mitte des Jahrhunderts die Umstrukturierung von Trianon vorangetrieben hat. Menard war ein Mitbegründer von Sigma. Und mit der Zeit müssen Sie zwangsläufig auch bei Sigma eine entscheidende Rolle gespielt haben.«
»Sigma«, sagte er mit zitternder Stimme. »Damit hat alles angefangen.«
»Ihr Genie war sicher sehr hilfreich bei dem Unterfangen, große Vermögenswerte aus dem Dritten Reich ins Ausland zu schaffen.«
»Ach, Sie glauben, das war das große Projekt? Das war gar nichts. Eine Fingerübung. Das große Projekt...« Er hielt ein paar Sekunden inne. »Das große Projekt stieß in ganz andere Dimensionen vor. Und es war ganz sicher keine Unternehmung, die Sie imstande wären zu begreifen.«
»Versuchen Sie’s«, sagte Ben.
»Ich werde doch nicht die Geheimnisse preisgeben, die ich mein Leben lang bewahrt
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