Das Sigma-Protokoll
»Georges Chardin!«, rief er. »Wir wollen Ihnen nichts tun. Wir wollen Ihnen helfen. Und wir brauchen auch Ihre Hilfe. Hören Sie uns bitte an.«
Aus dem Dunkel der Wohnung hörten sie ein merkwürdiges Keuchen. Ein unabsichtlich ausgestoßenes Geräusch. Wie das Wimmern eines verwundeten Tieres. Dann wieder ein paar Sekunden Stille. Als Nächstes hörten sie ein metallisches Klicken: das Geräusch einer Patrone, die ins Magazin einer Pumpgun geschoben wurde. Anna und Ben warfen sich links und rechts in gebückter Haltung zur Seite.
Ein ohrenbetäubender Knall. Eine Ladung Schrotkugeln zerfetzte
das Holzgeländer im Treppenhaus und riss gezackte Löcher in den Putz der Wand. Beißender Korditgestank hing in der Luft. Das Treppenhaus sah aus wie ein Kriegsschauplatz.
»Hören Sie zu!«, brüllte Ben in Richtung seines unsichtbaren Gegners. »Merken Sie nicht, dass wir gar nicht schießen? Wir wollen Ihnen nicht schaden.« Stille. Hörte er etwa zu? »Wir sind hier, weil wir Sie vor Sigma schützen wollen.«
Stille.
Jetzt hörte der Mann bestimmt zu. Das Wort Sigma verfehlte seine Wirkung nicht. Die für lange Zeit begrabene Vergangenheit kehrte in die Gegenwart zurück.
Anna machte Ben mit der Hand Zeichen. Er solle bleiben, wo er war, während sie versuchte, in die Wohnung zu gelangen. Aber wie? Ein paar Sekunden später wusste er es. Anna öffnete das hohe Fenster an einem Ende des Treppenhauses. Eine kalte Bö wehte Ben ins Gesicht. Sie wollte aus dem Fenster steigen, den schmalen Sims entlangtappen und in die Wohnung des Franzosen einsteigen. Das ist heller Wahnsinn, dachte Ben. Ein Windstoß, und sie würde aus dem sechsten Stock in die Tiefe stürzen. Aber es war schon zu spät. Sie war bereits hinausgeklettert und stand auf dem Sims.
Plötzlich hörte er eine fremdartige tiefe Baritonstimme. Sie kam aus der Wohnung. »Diesmal haben sie also einen Ami geschickt?«
»Es gibt keine >sie<, Chardin«, sagte Ben. »Wir sind nur zu zweit.«
»Und wer sind diese zwei?«, fragte die Stimme misstrauisch.
»Wir sind Amerikaner, das stimmt. Aber es sind persönliche Gründe, weshalb wir Ihre Hilfe brauchen. Sigma hat meinen Bruder ermorden lassen.«
Wieder herrschte eine Zeit lang Stille. »Halten Sie mich für einen Idioten? Lebend bekommen Sie mich nicht.«
»Wenn wir Sie umbringen wollten, gäb’s leichtere Methoden. Wir wollen mit Ihnen sprechen. Geben Sie uns eine Minute. Sie können uns ja mit der Waffe in Schach halten.«
»Worüber wollen Sie mit mir sprechen?«
»Ohne Ihre Hilfe können wir Sigma nicht in die Knie zwingen.«
Eine Pause. Dann kurzes, höhnisches Lachen. »Sigma in die Knie zwingen? Sie sind wahnsinnig. Bis jetzt habe ich wenigstens geglaubt, dass ich mich verstecken könnte. Wie haben Sie mich gefunden?«
»Erstklassige Detektivarbeit, was sonst? Trotzdem: Respekt. Sie haben Ihre Spuren wirklich meisterhaft verwischt. Verständlich, dass man die Kontrolle über das Familienvermögen behalten will. Sie haben es über eine fictio juris gemacht. Schlau ausgedacht. Aber ein brillanter Kopf sind Sie ja schon immer gewesen. Sonst wären Sie nicht Finanzchef eines Konzerns wie Trianon geworden.«
Wieder folgte eine Denkpause. Dann hörte Ben, wie in der Wohnung ein Stuhl knarzte. Wollte Chardin herauskommen? Ben schaute zum Fenster, wo Anna sich langsam auf dem Sims entlangbewegte. Mit beiden Händen hielt sie sich an dem Mauervorsprung über ihrem Kopf fest. Ihr Haar wehte im Wind. Dann verschwand sie aus Bens Blickfeld.
Anna würde gleich vor dem ersten Fenster von Chardins Wohnung auftauchen. Ben musste Chardin unbedingt ablenken.
»Was genau wollen Sie von mir?«, fragte Chardin. Seine Stimme klang jetzt ruhiger. Wenigstens hört er jetzt zu, dachte Ben. Der erste Schritt war getan.
»Wir haben Informationen, Monsieur Chardin, die für Sie von unschätzbarem Wert sein könnten. Über Sigma, über die Nachfolger, über die neue Generation, die jetzt am Ruder ist. Der einzige Schutz für Sie und für uns sind Informationen.«
»Sie Narr! Gegen die kann man sich nicht schützen.«
Ben sprach jetzt lauter. »Verdammt! Ihr Hirn war mal legendär, Chardin. Wenn Sie’s nicht mehr benutzen wollen, können wir uns gleich verabschieden. Kapieren Sie nicht, wie widersinnig Ihr Verhalten ist?« In versöhnlicherem Ton fügte er hinzu: »Wenn Sie nicht mit uns sprechen, werden Sie sich immer fragen, was wir Ihnen erzählen wollten. Vielleicht werden Sie nie Gelegenheit erhalten...«
Das
Weitere Kostenlose Bücher