Das Sigma-Protokoll
Innern des Umhangs und betupfte das Gewebe unterhalb seines schlitzartigen Mundes, wo sich glänzender Speichel angesammelt hatte. Schließlich begann er zu sprechen - zunächst stockend, dann immer flüssiger.
»Als der Krieg ausbrach, war ich acht Jahre alt. Ich ging auf eine schäbige kleine Provinzschule in Lyon, das Lycee Beaumont. Mein Vater war Bauingenieur bei der Stadt, meine Mutter Lehrerin. Ich war das einzige Kind und so was wie ein Wunderkind. Mit zwölf habe ich schon Kurse in angewandter Mathematik an der École Normale Supérieure de Lyon gehört. Das war die pädagogische Hochschule von Lyon. Ich hatte zwar eine natürliche
Begabung für Zahlen, aber die Uni interessierte mich nicht im Geringsten. Ich wollte etwas anderes. Das Mysterium der Zahlentheorie reizte mich nur sehr begrenzt. Ich wollte etwas in der realen Welt bewegen, im alltäglichen Leben. Also habe ich mich bei Trianon beworben, in der Buchhaltung. Natürlich musste ich mich ein paar Jahre älter machen. Schon damals hat man Émil Ménard als prophetischen, visionären Manager gefeiert. Aus grundverschiedenen, für unvereinbar gehaltenen Sparten hatte er einen Konzern geschmiedet. Er hatte erkannt, dass man durch die Zusammenführung von zuvor getrennten Unternehmen eine industrielle Macht schaffen konnte, die wesentlich stärker war als die Summe ihrer Einzelteile. Trianon war für mich ein Kunstwerk - die Sixtinische Kapelle der Unternehmensstruktur.
Binnen weniger Monate wurde der Chef der Abteilung, Monsieur Arteaux, auf meine Fähigkeiten auf dem Gebiet der Statistik aufmerksam. Arteaux war ein älterer Herr, der völlig in der Arbeit für die Visionen Ménards aufging. Im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen, die mich für einen unnahbaren Menschen hielten, mochte er mich. Wie zwei Fußballfans über ihren Sport konnten wir uns stundenlang über geschäftliche Dinge unterhalten - über die Vorteile von Binnenkapitalmärkten oder Alternativen zu Aktienrisikoprämien. Wir redeten über Themen, die die meisten Menschen anödeten, über die Architektur des Kapitals - darüber, wo man am geschicktesten investiert und reinvestiert; darüber, wie man am geschicktesten das Risiko verteilt. Arteaux, der kurz vor der Pensionierung stand, ging ein ziemlich hohes Risiko ein, als er über alle anderen Entscheidungsebenen hinweg bei Ménard einen Termin für mich arrangierte. Ménard machte sich über meine Jugend lustig und stellte mir ein paar ziemlich gönnerhafte Fragen. Meine Antworten waren ernst, aber sehr provozierend, fast unverschämt. Arteaux war entsetzt, aber Ménard hatte ich mit meiner ungewöhnlichen Art für mich eingenommen. Später hat er mir erzählt, dass ihn die Mischung aus Unverschämtheit und Nachdenklichkeit an ihn selbst erinnert hätte. Er war ein unglaublich selbstgefälliger Mensch, aber einer, der sich seine Selbstgefälligkeit verdient hatte. Der an mich adressierte Vorwurf der Arroganz war vielleicht nicht ganz unbegründet. Schon als Kind hatte man mir das vorgehalten.
Demut mag für einen Diener des Herrn eine ganz akzeptable Eigenschaft sein. Doch der Verstand gebietet es, dass man sich seiner eigenen Talente auf vernünftige Weise bedient. Ich hatte die Fähigkeit, messerscharfe Beurteilungen abzugeben. Warum sollte ich diese Fähigkeit nicht auf mich anwenden? Das Handicap meines Vaters war, dass er seine eigenen Qualitäten zu niedrig einstufte und auch andere dazu verleitete, sich zu unterschätzen. Ich hatte mir geschworen, diesen Fehler nie zu begehen.
Nur wenige Wochen später war ich Ménards persönlicher Assistent geworden. Ich war immer an seiner Seite, immer. Niemand wusste, ob ich nur eine Art Sekretär oder ein ernst zu nehmender Berater war. Und tatsächlich war es so, dass ich mich nach und nach von der einen Rolle zu der anderen hinbewegte. Menard behandelte mich eher wie einen Adoptivsohn denn wie einen Angestellten. Ich war sein einziger Protégé, quasi der einzige Messdiener, den der Hohepriester für würdig erachtete. Ich unterbreitete ihm teilweise ziemlich dreiste Vorschläge, die manchmal jahrelange Planungen über den Haufen warfen. So schlug ich zum Beispiel vor, den Konzernteil für die Erschließung von Ölfeldern abzustoßen, obwohl seine Manager Jahre gebraucht hatten, diesen Bereich aufzubauen. Ich schlug massive Investitionen in noch unerprobte Technologien vor. Wenn er meinen Ratschlägen folgte, war er mit den Ergebnissen fast ausnahmslos zufrieden. L’ombre de Ménard
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