Das Sigma-Protokoll
erweckend sei, dass ihn die Opfer sogar selbst in ihre Wohnungen gebeten hätten.
Ihr ganzes Leben hatte sie sich anhören müssen, dass ihre Nerven sehr schwach wären. Aber sie wusste es besser: Sie sah und fühlte Dinge, die andere Menschen nicht sahen, nicht fühlten. Und gerade jetzt, in einem derart entscheidenden Augenblick, hatte ihre Antenne sie im Stich gelassen. Wie hatte sie bloß so dumm sein können! Sie schaute sich hektisch nach etwas um, mit dem sie zuschlagen könnte, und packte einen schweren Tontopf, in dem ein kümmerlicher Gummibaum wuchs.
»Verschwinden Sie sofort aus meiner Wohnung!«, rief sie mit zitternder Stimme.
»Madame, bitte, reißen Sie sich doch zusammen«, sagte der Mann gelassen. Sein ruhiger, bedrohlicher Blick war der eines Räubers, der genau wusste, dass seine Beute ihm hoffnungslos unterlegen war.
Als sie das lange, gebogene Messer sah, das er aus der Innentasche
seiner Jacke zog, warf sie den Topf nach ihm. Der Topf war jedoch so schwer, dass er gerade mal bis zu den Füßen des Mannes flog. Ein Schritt nach hinten brachte ihn in Sicherheit. Panisch schaute sie sich um, packte den kleinen kaputten Fernseher, hob ihn hoch über den Kopf und schleuderte ihn in Richtung des Mannes. Lächelnd, mit einem kleinen Ausfallschritt, wich er dem Geschoss aus. Der Fernseher krachte gegen die Wand und fiel zu Boden, wobei das Plastikgehäuse und die Bildröhre zerbarsten.
O Gott! Ihr Blick fiel auf das Bügeleisen, das auf dem Bügelbrett stand. Sie stürzte darauf zu und packte es am Griff.
Der Mann erkannte die Gefahr und sagte laut und sichtlich verärgert: »Rühr dich nicht vom Fleck, du dumme Kuh!« Dann riss er mit einer blitzschnellen Bewegung ein zweites, kleineres Messer aus der Jacke und schleuderte es quer durchs Zimmer. Die messerscharfe Klinge sah aus wie eine Pfeilspitze, der stromlinienförmige Stahlgriff bildete das Gegengewicht.
Therese sah nichts. Sie spürte nur, wie sich die Klinge tief in ihre rechte Brust bohrte. Erst dachte sie, dass das, was sie getroffen hatte, von ihr abgefallen war. Doch dann schaute sie nach unten und sah den metallenen Griff, der aus ihrer Brust ragte. Im ersten Augenblick fühlte sie nichts. Doch dann spürte sie einen eiskalten, stärker werdenden Schmerz und sah, dass sich rund um den Stahl ein roter Fleck ausbreitete. Die Angst fiel von ihr ab und machte namenloser Wut Platz. Der Mann, der sie nur für ein weiteres dummes Opfer hielt, sollte sich bitter täuschen. Die nächtlichen Besuche ihres Vaters, die mit vierzehn angefangen hatten, fielen ihr ein. Der faulige Atem, der wie saure Milch roch, stieg ihr wieder in die Nase. Sie sah seine kurzen, groben Finger wieder, spürte die abgekauten Fingernägel, die ihren Körper blutig kratzten. Und sie erinnerte sich an Laurent, an seine letzten Worte. Wie Wasser aus einer unterirdischen Quelle schossen Wut und Empörung durch ihren Körper. Jede einzelne Demütigung, jeder Betrug, jede Misshandlung brach aus ihr heraus.
Heulend wie ein Tier walzte sie auf den Mann zu und rammte ihn mit der schieren Kraft ihrer zweihundertfünfzig Pfund zu Boden.
Sie wäre stolz auf ihre Leistung gewesen - wenn der Mann ihr
nicht im letzten Moment vor dem Aufprall zwei Kugeln in den Kopf gejagt hätte.
Trevor erschauerte vor Ekel, als er sich die fette, leblose Leiche vom Körper schob. Die Frau war tot nur wenig abstoßender als lebend. Als er die Pistole mit Schalldämpfer zurück in das Schulterhalfter schob, spürte er die Hitze des Stahls. Die beiden Löcher in der Stirn sahen aus wie ein zweites Augenpaar. Er zog sie vom Fenster weg. Wenn er gewusst hätte, dass sie so ausrasten würde, hätte er sie sofort erschossen. Egal, irgendetwas Unerwartetes passierte immer. Deshalb mochte er seinen Beruf. Er bestand nie ausschließlich aus Routine; immer gab es die Möglichkeit, dass etwas Überraschendes geschah, dass er sich einer neuen Herausforderung stellen musste. Nichts, womit er nicht fertig würde. Selbstverständlich. Nichts war je passiert, mit dem der Architekt nicht fertig geworden wäre.
Der Schrothagel aus der Flinte hatte Anna nur um einen Meter verfehlt. »Freundlicher Empfang, alle Achtung«, murmelte sie vor sich hin.
Aber woher war der Gruß gekommen?
In regelmäßiger Folge wurde ins Treppenhaus geschossen. Anscheinend saß der Mann weit hinten in der dunklen Wohnung und feuerte nach draußen. Anna und Ben kauerten links und rechts der Tür.
Das Herz schlug Ben bis zum Hals.
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