Das Sigma-Protokoll
sagte Ben. »Dann haben die auch...«
»Genau«, sagte Chardin und nickte mit seinem hässlichen, gesichtslosen Kopf. »Wir haben den Kalten Krieg angefangen. Beginnen Sie jetzt langsam zu verstehen?«
Trevor öffnete den Koffer und setzte mit flinken, geübten Fingern das Gewehr Kaliber 50 zusammen - eine Sonderanfertigung der BMG AR-15. In Trevors Augen war es ein Kunstwerk. Die Waffe war ein Präzisionsgerät mit relativ wenig beweglichen Teilen und einer enormen Reichweite. Bei geringeren Distanzen war die Durchschlagskraft phänomenal: Das Geschoss durchschlug siebeneinhalb Zentimeter dicken Stahl, jagte glatt durch ein Auto oder sprengte einen Steinbrocken aus einer Hausecke. Bröckeliger Mörtel war wie Butter. Die Geschwindigkeit der Kugel betrug über neunhundert Meter pro Sekunde. Auf einem Zweibein und ausgestattet mit einem Leupold Vari-X-Infrarot-Zielfernrohr, verfügte das Gewehr über eine Präzision, die mehr als ausreichend war. Ein Lächeln lag auf Trevors Lippen, als er das Gewehr auf das Zweibein montierte. Man konnte schwerlich behaupten, dass er für den Job ungenügend ausgerüstet war.
Zumal sich das Objekt auf der anderen Straßenseite befand.
33. KAPITEL
Paris
»Unfassbar«, sagte Anna. »Ich kann’s einfach nicht glauben.«
»Ich habe so lange mit dieser Geschichte gelebt, dass sie für mich ganz alltäglich ist«, murmelte Chardin. »Aber mir ist natürlich klar, was für einen gewaltigen Aufruhr es geben würde, wenn die Menschen davon erführen. Immerhin müssten sie erkennen, dass ein beträchtlicher Teil der Geschichte, ihrer ganz persönlichen Geschichte, nichts als eine Inszenierung war. Eine Inszenierung von Leuten wie mir, von Geschäftsleuten, Finanzmanagern und Industriellen, die in der ganzen Welt ihre Verbündeten tanzen ließen. Nach einem Drehbuch von Sigma. Man müsste die Geschichtsbücher umschreiben. Zielstrebige Lebensläufe würden plötzlich wie das Gezappel einer Marionette im Puppentheater wirken. Sigma ist eine Geschichte darüber, wie Mächtige gestürzt und Gestürzte mächtig wurden. Eine Geschichte, die nie an die Öffentlichkeit gelangen darf. Haben Sie mich verstanden? Nie!«
»Was waren das für Menschen, die einen derart größenwahnsinnigen Plan ausgeheckt und umgesetzt haben?« Ben betrachtete Chardins weichen braunen Umhang. Er verstand jetzt die physische Notwendigkeit für das lockere, weite Kleidungsstück.
»Als Erstes müssen Sie das visionäre, elitäre Sendungsbewusstsein dieser Männer begreifen«, sagte Chardin. »Wir hatten schon vorher in den Lauf der Menschheitsgeschichte eingegriffen. Wir hatten das Auto und das Flugzeug erfunden, bald würde der Düsenjet folgen. Der Mensch konnte sich am Boden mit einer für unsere Vorfahren unvorstellbaren Geschwindigkeit vorwärts bewegen; wir konnten fliegen! Mit Radio- und Schallwellen schufen wir uns einen sechsten Sinn, einen Einblick in unbekannte
Welten. Wir automatisierten das Rechnen. Und dann die bahnbrechenden Entwicklungen in der Werkstoffkunde - in der Metallurgie, bei Kunststoffen, bei Produktionstechniken, die neue Formen von Gummi, Klebstoffen, Textilien und hundert anderen Dingen hervorbrachten. Die Welt, in der wir lebten, nahm eine andere Gestalt an. Die moderne Industrie machte in allen Sparten revolutionäre Entwicklungen durch.«
»Eine zweite industrielle Revolution«, sagte Ben.
»Eine zweite, dritte, vierte, fünfte«, betonte Chardin. »Wo war die Grenze? Der Leistungsfähigkeit moderner Industriekonzerne schienen keine Grenzen gesetzt zu sein. Und als sich dann noch die Möglichkeiten der Atomkraft abzeichneten, mein Gott, was konnten wir nicht alles erreichen, wenn wir nur wollten! Vannevar Bush, Lawrence Marshall oder Charles Smith leisteten in ihrer Firma Raytheon Pionierarbeit, sei es auf dem Gebiet der Mikrowellen, Raketenlenksysteme oder Radarüberwachung. Viele der in den folgenden Jahrzehnten allgegenwärtigen Errungenschaften - Xerografie, Mikrowellentechnologie, binäre Computersysteme, Festkörperelektronik - waren entwickelt und erstmals gebaut worden von Firmen wie Bell, General Electric, Westinghouse, RCA oder IBM. Die Welt der Wirtschaft tanzte nach unserer Pfeife. Warum nicht auch die Welt der Politik?«
»Was genau war Ihre Aufgabe?«, fragte Ben.
Chardin starrte auf einen imaginären Punkt irgendwo hinter Bens Rücken. Er griff unter die Kutte, holte den Zerstäuber hervor und befeuchtete seine Augen. Dann zog er ein weißes Taschentuch aus dem
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