Das silberne Zeichen (German Edition)
hatten die Domherren gemeinsam mit den Schöffen überzeugen können, sich aus der Sache herauszuhalten. Einige von ihnen waren ebenfalls zu der Prozession gegangen, andere hielten sich vermutlich in ihren Häusern auf.
Es herrschte eine unheimliche Ruhe. Geruschas Herzschlag beschleunigte sich. War da ein Geräusch an der Hintertür gewesen? Sie zuckte heftig zusammen, als vor der Küche Schritte laut wurden; im nächsten Moment trat Leynhard ein. Suchend blickte er sich um. «Wo stecken denn alle? Ist niemand mehr im Haus?»
Geruscha schluckte und spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Rasch verschränkte sie sie ineinander und bemühte sich um eine gleichmütige Miene. «Sind alle zu der Prozession gegangen, die die Dompfaffen heute abhalten. Balbina hat gesagt, dort können sie am besten für Frau Marysa beten. Hast du nicht davon gehört?»
Leynhard hob nur die Schultern. «Sicher. Der Dompfaffe hat ja davon gesprochen.» Argwöhnisch musterte er Geruscha. «Warum bist du nicht auch mit ihnen gegangen?»
Geruscha biss sich auf die Lippen. «Ich hab … also ich wollte nicht mit, weil doch einer hier im Haus bleiben muss, falls …» Wieder schluckte sie. «Falls Frau Marysa zurückkehrt oder so.» Kurz meinte sie, auf Leynhards Gesicht so etwas wie ein verächtliches Grinsen aufflackern zu sehen, doch er behielt sich gut unter Kontrolle. «Das ist bestimmt eine gute Idee. Alle anderen sind also fort?»
Sie nickte.
Leynhard straffte die Schultern. «Dann werde ich auch wieder gehen.»
«Wohin?», rutschte es Geruscha heraus. Sie hielt erschrocken die Luft an und wurde rot.
Leynhard warf ihr einen strengen Blick zu. «Das geht dich nichts an», sagte er, fügte dann jedoch etwas freundlicher hinzu: «Ich hab noch was zu erledigen.»
***
Das Kellergewölbe, in das Leynhard Marysa gesperrt hatte, besaß einen trockenen Lehmboden. Die Wände waren aus schweren Bruchsteinen gemauert. Es roch ein wenig muffig, doch der Raum war groß, sodass sich die Luft nicht allzu schnell verbrauchte. Marysa saß etwa in der Mitte des Gewölbes auf dem Boden. Ihre Hände hatte Leynhard ihr auf dem Rücken gefesselt, der Strick schnitt schmerzhaft in ihre Handgelenke. Auch einen Knebel hatte er ihr zwischen die Zähne geschoben und so fest gebunden, dass sie das Gefühl hatte, ihre Mundwinkel müssten jeden Moment einreißen. Inzwischen hatte der dicke Leinenstoff sämtliche Feuchtigkeit aus ihrem Mund und Rachen aufgesogen; heftiger Durst plagte sie.
Zunächst hatte sie versucht, in der Dunkelheit des Kellers herauszufinden, ob es irgendwelche Einrichtungsgegenstände, Regale oder Ähnliches gab, doch der Raum war vollkommen leer. Nichts fand sich, was sich als Werkzeug eignete, um die Fesseln zu lösen oder um sich gegen ihren Entführer zu wehren, sollte er wieder auftauchen.
Leynhard hatte sie hier eingesperrt und war dann verschwunden. Marysa wusste nicht, ob er vorhatte, noch einmal wiederzukommen. Vermutlich wollte er das, doch bestimmt war er zunächst wieder nach Hause gegangen, damit das Gesinde ihn nicht verdächtigte. Vermutlich war der gesamte Haushalt bereits in hellem Aufruhr, ganz zu schweigen von ihren Eltern.
Marysa hoffte, dass Geruscha ihre Geldkatze gefunden hatte. Bereits in ihrem Hinterhof hatte sie bemerkt, dass sich jemand beim Misthaufen herumtrieb. Wahrscheinlich hatte das Mädchen den Abtritt benutzt und dabei sie und Leynhard gesehen. An der Mannpforte des Ponttores hatte Marysa sie noch einmal kurz gesehen. Sie hoffte zumindest, dass es sich bei der Gestalt, die ihnen gefolgt war, um Geruscha gehandelt hatte. Falls dem so war und die Magd die Börse entdeckt hatte, war sie bestimmt sofort zurückgekehrt und hatte Alarm geschlagen. Marysa war dankbar, dass Geruscha es nicht sofort getan hatte. Leynhards Dolch hatte sich so fest in ihren Rücken gedrückt, in seinen Augen war ein Ausdruck von Wahnsinn aufgeblitzt. Möglicherweise wäre es Marysas Todesurteil gewesen, wenn Geruscha um Hilfe gerufen hätte.
Leynhard. Marysa krochen kalte Schauer über den Rücken, wenn sie an ihn dachte. Was war nur mit ihm geschehen? Er hatte kaum ein Wort zu ihr gesagt auf dem Weg hierher, doch sie hatte gespürt, dass er Schreckliches vorhatte. Er war es gewesen, der Christophs Urkunden gestohlen hatte. Die Tasche hatte sie mitnehmen müssen; sie lag jetzt wohl irgendwo in dem Gebäude, das sich über dem Keller befand. Ein altes Wohnhaus in einer der Ansiedlungen vor den Toren der Stadt. Viel hatte
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