Das silberne Zeichen (German Edition)
sie nicht erkennen können, denn ihre Lampe hatte sie absichtlich beim Ponttor fallen gelassen. Viele Gebäude mit Unterkellerung gab es außerhalb der Stadt nicht. Dieses Gewölbe schien auch nicht zu dem Haus zu gehören. Vielleicht stammte es aus der Zeit, als die Römer sich hier in der Gegend angesiedelt hatten.
Marysa versuchte die Angst, die sich in ihr ausgebreitet hatte, unter Kontrolle zu bringen. Leynhard schien wahnsinnig geworden zu sein. Wie sonst war zu erklären, was er getan hatte? Niemals hätte sie vermutet, dass der loyale und ruhige Geselle ihr etwas antun wollte. Wollte er das wirklich?
Marysa beantwortete sich diese Frage mit einem eindeutigen Ja. Etwas musste in Leynhards Kopf durcheinandergeraten sein. Und je länger sie darüber nachdachte, desto deutlicher sah sie die Zusammenhänge. Sie hatte seinen Antrag im Herbst abgelehnt. Auch wenn er es nicht gezeigt hatte, schien ihn dies schlimmer getroffen zu haben, als sie angenommen hatte. Sein Schmerz war dann offenbar zu Hass geworden. Hass auf sie, die ihn abgewiesen hatte, und Hass auf den Mann, den sie ihm vorgezogen hatte.
Marysa schloss die Augen und versuchte sich Christophs Gesicht vorzustellen, doch sie sah immer nur Leynhards kalten, stechenden Blick vor sich. Er hatte die Urkunden gestohlen, wahrscheinlich auch Hartwig gegen sie aufgebracht, auf welchem Wege auch immer. Ihr fiel Gort ein. Möglicherweise hatte Leynhard den anderen Gesellen benutzt, um Hartwig mit den entsprechenden Informationen zu versorgen.
Hartwig hatte gewusst, dass Christoph in jener Nacht bei ihr gewesen war – zumindest hatte er es vermutet. Hatte also Leynhard sie beide heimlich belauscht?
Und dann die Silberzeichen. Dass er sie ihr gezeigt hatte, konnte nur bedeuten, dass er auch hinter dieser Sache steckte. War er also auch für van Hullsens Tod verantwortlich? Für den Brand in van Lyntzenichs Werkstatt? Für den Mord an Heyn?
Das Grauen ergriff Marysa so heftig, dass sie leise aufstöhnte. Sie konnte das alles nicht glauben. Es durfte nicht wahr sein. Nicht Leynhard, der ihr immer so ein fleißiger, treu ergebener Geselle gewesen war.
Sie zuckte zusammen, als sie die Tür zu ihrem Verlies knarren und quietschen hörte. Der Lichtschein einer Pechfackel erhellte den Raum, als Leynhard langsam die Stufen herabstieg und auf sie zukam.
***
Unruhig ging Christoph in seiner Zelle auf und ab. In seinem Kopf wie in seinem Herzen hatten sich nur ein Gedanke und ein Gefühl breitgemacht: die Angst um Marysa. Wohin war sie verschwunden? Hatte man sie entführt? Erinnerungen an eine ähnliche Situation im vergangenen Herbst stiegen in ihm auf. Er ballte die Hände zu Fäusten und hätte liebend gern auf jemanden eingeschlagen. Auf denjenigen, der Marysa jetzt vielleicht in seiner Gewalt hatte.
Christoph blieb mitten in der Zelle stehen und schloss die Augen. Mit einer Inbrunst, an der es ihm sonst eher mangelte, betete er zur Heiligen Maria, sie möge die Frau beschützen, die er liebte. Als er die Augen öffnete, fühlte er sich nicht besser als zuvor. Er hoffte, dass es nicht schon zu spät war. Wenn jemand Marysa entführt hatte, dann sicherlich, um ihr etwas anzutun. Was, wenn dies bereits geschehen war?
Verzweifelt nahm Christoph seinen Gang durch die beengte Zelle wieder auf. Es musste ihr einfach gutgehen. Wenn er nur endlich hier heraus wäre, um sich selbst auf die Suche zu begeben. Doch nach wem sollte er suchen? Hartwig Schrenger schien unschuldig zu sein. Also wirklich Gort Bart? Er hatte den einfältigen Gesellen hin und wieder getroffen. Im Leben wäre er nicht darauf gekommen, dass dieser Mann klug genug war, sich einen derart hinterhältigen Plan auszudenken.
Christoph blieb an dem kleinen, vergitterten Fenster stehen und blickte hinaus. Bei Tageslicht konnte er sowohl die gegenüberliegende Häuserfassade sehen, ein Stückchen blauen Himmel darüber, als auch die Menschen, die geschäftig am Grashaus vorbeiliefen und ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgingen. Es war ruhig in Aachen. So ruhig, dass das Klappern der Pferdehufe die Menschen aufschreckte. Ein Trupp bewaffneter Stadtsoldaten trabte am Grashaus vorüber in Richtung der Acht. Vermutlich waren das einige der Männer, die man auf die Suche nach Marysa geschickt hatte. Bisher schienen sie nicht erfolgreich gewesen zu sein. Es war jetzt Nachmittag. Nicht mehr lange bis zur Non, schätzte Christoph.
Um sich von seiner Sorge abzulenken, ging er in Gedanken noch einmal durch, was
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