Das silberne Zeichen (German Edition)
groß.
Leynhard umfasste ihren Arm mit noch härterem Griff und zerrte sie zu Boden, bis sie kniete. Die Fackel legte er so vor ihr ab, dass sie nicht verlöschen konnte. Dann öffnete er die Tasche und zog die Urkunden und Briefe daraus hervor.
Marysa schluckte, ihre Kehle war ausgedörrt. Leynhard ging um sie herum und beugte sich von hinten über sie. Sein Atem streifte ihre Wange und verursachte ihr eine Gänsehaut. «Ich werde jetzt Eure Fesseln durchschneiden, Frau Marysa. Aber ich warne Euch. Mein Dolch ist scharf. Eine unbedachte Bewegung schon könnte mich veranlassen, ihn schneller zu benutzen, als Euch und mir lieb ist.»
Sie nickte leicht und spürte im nächsten Moment, wie die Klinge den Strick durchtrennte. Unbeholfen rieb sie sich über die Handgelenke. Selbst wenn sie gewollt hätte – an eine Gegenwehr war nicht zu denken. Ihre Finger waren wie abgestorben, ihre Schultergelenke schmerzten. In ihrer Seite spürte sie die Spitze des Dolches. Leynhard schob sich neben sie und deutete mit dem Kinn auf den Stapel Schriftstücke am Boden. «Nun verbrennt sie, Frau Marysa. Schön langsam, eines nach dem anderen.»
***
Die aus der Ferne näher kommenden Gesänge der Augustiner rissen Christoph aus seinen dumpfen Grübeleien. Er ging wieder ans Fenster und versuchte etwas zu erkennen. Lange dauerte es nicht, bis er die ersten Vorboten der Prozession über den Parvisch kommen sah. Novizen des Augustinerklosters schwenkten Weihrauchgefäße. Ihnen folgten zwei Ministranten, die ein silbernes Kreuz auf einer hohen Stange trugen, dann Rochus van Oenne sowie, ihrem Rang entsprechend, die weiteren Domherren in ihren festlichen Gewändern. Hinter ihnen liefen die singenden und psalmodierenden Mönche.
Der Weg über den Parvisch bis zum Grashaus war nicht weit, die Prozession kam jedoch nur sehr langsam voran. Überall sprangen die Türen der Wohnhäuser auf, Menschen strömten auf die Straße, umringten die Domherren, folgten den Mönchen mit lauten Rufen und Gebeten.
Christoph versuchte in der Menge das Gesicht des Dominikaners auszumachen, ohne Erfolg. Hinter sich, im Inneren des Gefängnisses, erklangen Rufe, das Quietschen von Scharnieren, Gelächter sowie Geräusche, die auf eine Rangelei zwischen Wächtern und Gefangenen hinwiesen.
Als auch der Riegel seiner Zelle geöffnet wurde, drehte sich Christoph um. Der Wachmann stieß die Tür auf, warf ihm einen wütenden Blick zu und ging davon. In den Gängen des Grashauses herrschte der von Jacobus vorausgesagte Tumult. Übertönt wurde er von der herrischen Stimme des Vogtmeiers: «Führt mich zu ihm, verflucht. Ich habe Anweisung, den Schreinemaker unverzüglich aus dem Grashaus fortzubringen.» Augenblicke später stand er mit zwei Soldaten vor Christoph. «Legt ihn in Ketten», befahl er.
Die Soldaten gehorchten, noch ehe Christoph etwas sagen konnte. Seine Hände wurden mit schweren Handschellen aneinandergekettet.
«Und nun hinaus mit ihm», bellte der Vogtmeier. «Von den Dompfaffen lassen wir uns nicht einfach ausstechen.»
«Los, vorwärts!» Einer der Soldaten stieß Christoph grob in die Rippen, sodass dieser losstolperte. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Jacobus hatte nichts davon gesagt, dass der Vogtmeier sich einmischen würde. Möglicherweise hatte er nicht damit gerechnet. Was nun? Eine Flucht war unter diesen Umständen nicht möglich.
Den Geräuschen und Gesängen nach befand sich die Prozession in diesem Moment auf Höhe des Grashauses. Die Soldaten hielten Christoph links und rechts an den Armen gepackt. Der Vogtmeier ging ihnen voraus durch das Tor des Gefängnisses und bog zielstrebig nach rechts ab. Die Soldaten folgten ihm. Rufe wurden laut, als die Menschen Christoph erblickten.
«Halt!», rief eine donnernde Stimme.
Christoph zuckte zusammen.
«Im Namen der heiligen Gottesmutter, unseres Heilands und des heiligen Hilarius, zu dessen Ehren wir heute diesen Bitt- und Opfergang abhalten, bleibt stehen!» Die Stimme gehörte Rochus van Oenne.
Christoph war überrascht, diesen mit solch unverhoffter Autorität sprechen zu hören.
Der Vogtmeier ignorierte ihn und bahnte sich stur seinen Weg durch die Menge. Die Soldaten zerrten Christoph weiter.
«Höret!», donnerte van Oenne erneut. «Herr Vogtmeier, haltet ein! Wir verlangen im Namen des Herrn und des Asylrechts der heiligen Mutter Kirche, dass Ihr Euren Gefangenen, den Schreinbauermeister Christoph Schreinemaker, unverzüglich in unsere Obhut
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