Das silberne Zeichen (German Edition)
ermordet und sie selbst ins Gefängnis gekommen war. Danach war er für anderthalb Jahre aus ihrem Leben verschwunden und erst im November des vergangenen Jahres plötzlich wiederaufgetaucht. Wohl hauptsächlich, weil er sich gute Geschäfte mit den Pilgern erhoffte, die Aachen im Vorfeld der Einweihung der neuen Chorhalle des Aachener Doms erwartete. Doch anstatt seine gefälschten Urkunden unters Volk zu bringen, hatte er ihr erneut beistehen müssen, denn ihr Stiefvater, Bardolf Goldschläger, wäre durch eine hinterhältige Intrige beinahe als Mörder verurteilt worden. Auch sie selbst war in böse Bedrängnis geraten; noch heute bekam sie eine Gänsehaut, wenn sie an jene Ereignisse dachte. Ob es vorherbestimmt war, dass sie sich ineinander verlieben sollten? Marysa wusste es nicht. Aber zumindest argwöhnte sie, nachdem sie inzwischen mehr über Christoph wusste, dass ihr Bruder Aldo derartige Hintergedanken verfolgt hatte, als er seinen Freund zu jenem verhängnisvollen Versprechen gedrängt hatte.
Marysa war sich nicht sicher, ob sie ihrem Bruder dafür dankbar sein oder ihn für seine Art, Schicksal zu spielen, verfluchen sollte. Sie hatte Aldo geliebt, vermisste ihn auch jetzt noch schmerzlich. Deshalb fiel es ihr schwer, einen Groll gegen ihn zu hegen.
Wo mochte Christoph nur stecken? Er war Anfang Dezember nach seiner Geburtsstadt Frankfurt aufgebrochen, um Urkunden oder andere Schriftstücke zu besorgen, die bewiesen, dass er nicht Bruder Christophorus, sondern Christoph Schreinemaker, der Sohn eines angesehenen Tischlers, war. Was die Angelegenheit so delikat – und auch gefährlich – machte, war die Tatsache, dass Christoph – oder besser Bruder Christophorus – nicht nur als falscher Mönch und Ablasskrämer gelebt, sondern sich zuweilen sogar als Inquisitor ausgegeben hatte. Zwar hatte er einen ausgeklügelten Plan entwickelt, der alles glaubhaft erklären sollte, aber Marysa schauderte bei dem Gedanken, dass schon der kleinste Fehler in diesem Gespinst die schlimmsten Folgen nach sich ziehen könnte. Dennoch hatte sie dem Vorhaben zugestimmt, das Christoph ermöglichen würde, sie zu heiraten und als Meister ihre Schreinwerkstatt zu übernehmen. Weil sie ihn liebte.
Kein geringerer Grund hätte sie jemals dazu verleiten können, sich auf ein derart gefährliches Vorhaben einzulassen. Die tiefen Gefühle für ihn waren fast unbemerkt – und ungewollt – in ihr gewachsen. Irgendwann hatten sie sich nicht mehr leugnen oder unterdrücken lassen. Und sie wusste, dass es ihm ebenso ergangen war.
Nun lag sie hier, allein in der kalten Dunkelheit ihrer Schlafkammer, und sehnte nichts mehr herbei als seine Arme, die sie fest umfingen, und seine Stimme, die ihr ins Ohr raunte, dass alles wieder gut werden würde.
***
Wo steckte er bloß? Auch am Morgen des folgenden Tages ließ ihr diese Frage keine Ruhe. Sie versuchte, sich mit geschäftlicher Korrespondenz abzulenken. Die Briefe an ihre neuen Geschäftspartner in Ungarn beanspruchten ihre ganze Aufmerksamkeit. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass ihre Sorgen sich immer wieder in den Vordergrund drängten.
War ihm vielleicht etwas zugestoßen? Warum hatte er keine Nachricht geschickt? Sie war sicher, dass er es getan hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Er hätte sie nicht mehr als zwei Monate lang im Ungewissen gelassen. So weit war Frankfurt nicht entfernt. Ein berittener Bote wäre selbst bei schlechtem Wetter und vereisten Straßen innerhalb weniger Tage nach Aachen gelangt.
Was also war geschehen, dass Christoph so lange fortblieb, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben? Bei Tage weigerte Marysa sich strikt, auch nur einen jener Zweifel zuzulassen, die sie des Nachts immer häufiger heimsuchten. Eisern hielt sie an ihrem Vertrauen fest, dass er sein Versprechen halten würde.
Entschlossen beugte sie sich wieder über das Schriftstück, das vor ihr auf dem Schreibpult lag. Im Haus war es heute ungewöhnlich still. Die Arbeit ruhte, weil ihre beiden Gesellen nicht da waren. Milo und Jaromir, die beiden jungen Knechte, waren mit dem Holzkarren unterwegs zum Markt, die Köchin Balbina werkelte zusammen mit der Magd Imela in der Küche. Das stille Mädchen machte sich gut am Herd, wie Marysa staunend festgestellt hatte. Bisher war Imela hauptsächlich der alten Fita im Haushalt zur Hand gegangen. Doch Fita war kurz nach Weihnachten an Lungenfieber gestorben. Seither zog es Imela mehr und mehr in Balbinas Reich. Zwar
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