Das silberne Zeichen (German Edition)
vernachlässigte sie ihre übrigen Pflichten nicht, doch Balbina hatte bereits mehrfach angedeutet, dass Imela ihr in der Küche eine äußerst brauchbare und verständige Hilfe sei. Deshalb überlegte Marysa, ob sie sich nicht nach einer weiteren Magd umsehen sollte.
Um ihr Personal würde sie sich ein andermal kümmern müssen. Die Handelsbeziehungen zu den ungarischen Augustinern gingen vor. Nachdenklich schob sie ein paar der schwarzen und grünen Rechensteine an ihrem Abakus, dem Rechenbrett, hin und her und überschlug die Kosten für eine weitere Lieferung Stoffreliquien. Das Jahr hatte vielversprechend begonnen. Im Januar, am 600. Todestag Karls des Großen, war die Chorhalle des Doms sehr feierlich von dem Weihbischof Heinrich von Sidon eingeweiht worden. Unzählige Pilger waren zu diesem Anlass nach Aachen gekommen. Nicht so viele wie bei der Heiltumsweisung anno 1412, aber dennoch genug, um die Geldbeutel der Reliquienhändler, Schreinbauer und des alten Ablasskrämers, der von Bonn herübergekommen war, reich zu füllen. Im kommenden Herbst dann würde König Sigismund nach Aachen kommen, um sich endlich krönen zu lassen und danach zu dem großen Kirchenkonzil nach Konstanz weiterzureisen. Auch dieses Ereignis versprach einen großen Strom von Pilgern und Schaulustigen. Da die kleinen Amulette und Reliquiare, die in Marysas Werkstatt gefertigt wurden, bei den Feierlichkeiten zur Einweihung der Chorhalle fast vollzählig verkauft worden waren, mussten Heyn und Leynhard baldmöglichst mit der Herstellung beginnen, damit das Lager bis zur Krönung wieder ordentlich aufgefüllt wäre.
Marysa streichelte über ihren Bauch. Im Herbst wäre ihr Kind schon auf der Welt. Und sie hätte, so Gott wollte, einen neuen Ehemann und zugleich einen fähigen Meister für ihre Werkstatt. Sie musste heiraten, nicht nur um des Kindes willen, sondern auch weil im Sommer die Zweijahresfrist zu Ende gehen würde, während deren sie als Meisterwitwe die Schreinwerkstatt allein weiterführen durfte.
Marysa Schreinemaker, dachte sie. Kein schlechter Name. Und gewiss würde die Ehe mit Christoph ganz anders verlaufen als jene mit Reinold. Dieser hatte sie nur wegen ihrer Mitgift und der Werkstatt geheiratet und ihr weder Zuneigung noch Achtung entgegengebracht. Er hatte ihre Hilfe oder Einmischung in die Belange der Werkstatt immer strikt abgelehnt, obwohl sie zu Lebzeiten ihres Vaters oft in dessen Kontor ausgeholfen und vieles gelernt hatte.
Nach Reinolds Tod hatte sie die alten Geschäftskontakte ihres Vaters wieder aufgefrischt, der der bekannteste Reliquienhändler Aachens gewesen war. Inzwischen hatte sie sich einen guten Ruf im Handel mit Heiltümern erworben, und sie wusste, dass Christoph ihr dieses Geschäft nicht wieder verbieten würde. Im Gegenteil, sie argwöhnte, dass ihm der Gedanke gefiel, anstelle seiner Ablassbriefe fortan Reliquien unters Volk zu bringen. Anfangs hatte Marysa sich strikt gegen den Vergleich gewehrt, doch inzwischen musste sie zugeben, dass beide Tätigkeiten einander nicht unbeträchtlich ähnelten. Zwar gab es unter ihren Handelswaren durchaus echte Heiltümer, doch die meisten Reliquien, die sie verkaufte, waren nicht einmal in die Nähe von irgendwelchen Heiligen oder Märtyrern gelangt. Marysa hatte keine Gewissensbisse, Fälschungen zu verkaufen, solange sie von hervorragender Qualität waren. Sie rechtfertigte ihr Tun damit, dass sie eben Zeugnisse des Glaubens verkaufte, denn die meisten Menschen brauchten etwas Greifbares, woran sie sich festhalten konnten.
Christoph wiederum hatte ihr gegenüber seinen Handel mit gefälschten Ablassbriefen mit ähnlichen Argumenten verteidigt. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass dies wohl auch einer der Gründe war, aus denen Aldo sich einst mit ihm angefreundet hatte. Und vermutlich hatte er auch deswegen Christoph nach Aachen geschickt.
Marysas Gedanken wurden unterbrochen, da jemand laut gegen die Haustür pochte. Sie hob den Kopf und vernahm die Schritte ihres Altknechts Grimold, Augenblicke später die aufgebrachte Stimme ihres Vetters Hartwig. Seufzend schob sie den Brief unter einige andere Papiere und wappnete sich innerlich für die vermutlich unerfreuliche Begegnung.
Ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich umgehend. Hartwig kam mit wehendem Zunftmantel und grimmiger Miene in ihr kleines Kontor gerauscht und baute sich ehrfurchtgebietend vor ihrem Pult auf. «Es reicht mir jetzt, Cousine», wetterte er ohne
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