Das Silmarillion
aller Dinge, die aufrecht standen, wurden zu der Zeit länger und dunkler.
Es wird erzählt, eine Zeitlang sei Melkor in Valinor nicht mehr gesehen worden, noch hörte man irgendein Gerücht über ihn, bis er plötzlich nach Formenos kam und mit Feanor sprach, vor seiner Tür. Freundschaft schützte er vor mit schlauen Reden und gemahnte ihn an seinen alten Wunsch, aus den Netzen der Valar zu entfliehen; und er sagte: »Bedenk nur, wie wahr alles ist, was ich gesprochen, und wie ungerecht sie dich verbannt haben. Wenn aber Feanors Herz immer noch so frei und kühn ist, wie es seine Reden in Tirion waren, so will ich ihm helfen und ihn weit herausführen aus diesem engen Land. Denn bin nicht auch ich ein Vala? Ich bin’s, und mehr als die, welche da stolz in Valimar sitzen; und immer bin ich ein Freund der Noldor gewesen, des kunstreichsten und tapfersten unter den Völkern von Arda.«
Nun war Feanors Herz noch immer bitter von seiner Demütigung vor Mandos, und er sah Melkor schweigend an und überlegte, ob er diesem wohl so weit trauen könne, dasser ihm zur Flucht verhelfe. Und Melkor, der sah, dass Feanor schwankte, und wusste, welchen Platz die Silmaril in seinem Herzen einnahmen, sagte zuletzt: »Ein fester Platz ist dies hier und gut bewacht, doch glaube nicht, dass die Silmaril in irgendeiner Schatzkammer sicher liegen werden im Reich der Valar!«
Aber seine List traf übers Ziel hinaus. Seine Worte griffen zu tief und entfachten ein wilderes Feuer, als er beabsichtigt hatte; und Feanor sah Melkor mit Augen an, die durch sein edles Gebaren hindurchbrannten und alle Schleier seines Geistes zerrissen, und er sah sein wildes Gelüst nach den Silmaril. Hass vertrieb da Feanors Furcht, und er verwünschte Melkor und jagte ihn fort mit den Worten: »Schere dich weg von meiner Tür, du Krähe aus Mandos’ Kerker!« Und vor dem mächtigsten aller Bewohner von Ea schlug er die Tür seines Hauses zu.
Da schlich Melkor in Schande davon, denn er war selbst in Gefahr, und noch sah er die Zeit seiner Rache nicht gekommen; sein Herz aber war schwarz vor Wut. Und Finwe war von tiefer Furcht erfüllt, und in aller Eile sandte er Boten zu Manwe in Valmar.
Dort saßen die Valar vor ihren Toren zu Rate, besorgt über die länger werdenden Schatten, als die Boten aus Formenos eintrafen. Sogleich sprangen Orome und Tulkas auf, doch als sie sich eben zur Verfolgung anschickten, kamen Boten aus Eldamar, die berichteten, Melkor sei durch den Calacirya geflohen, und von dem Hügel von Túna aus hatten die Elben ihn im Zorn vorbeiziehen sehen, wie eine Gewitterwolke. Und sie sagten, von dort aus habe er sich nach Norden gewandt, denn die Teleri in Alqualonde hatten seinen Schatten über ihrem Hafen gesehen, wie er gen Araman zog.
So verschwand Melkor aus Valinor, und eine Zeitlang schienen die Zwei Bäume wieder ungetrübt, und das Land war voller Licht. Doch vergebens forschten die Valar nach ihres Feindes Verbleib; und wie eine Wolke in weiter Ferne, die immer höher heraufzieht, getragen von einem leisen kalten Wind, so hing nun ein Zweifel über allen Freuden der Bewohner von Aman, ein Bangen, sie wussten nicht, vor welchem Unglück.
KAPITEL VIII
VON DER VERDUNKELUNG VALINORS
A ls Manwe erfuhr, welchen Weg Melkor genommen, schien es ihm klar, dass er in seine alten Hochburgen im Norden von Mittelerde zu entkommen gedachte; und Orome und Tulkas eilten nach Norden, so schnell sie konnten, um ihn einzuholen, doch weder Spur noch Gerücht fanden sie von ihm jenseits des Ufers der Teleri, in den unbevölkerten Öden, die sich zum Eise hin erstreckten. Darauf wurden die Wachen an den nördlichen Grenzen von Aman verdoppelt. Doch umsonst, denn ehe noch die Verfolger sich aufmachten, war Melkor schon umgekehrt und heimlich weit in den Süden gegangen. Denn noch war er einer der Valar und vermochte die Gestalt zu wechseln oder ihrer ganz zu entraten, wie die andren Valar, auch wenn er diese Kraft bald für immer einbüßen sollte.
Ungesehen kam er so schließlich in den dunklen Bezirk von Avathar. Dieses schmale Stück Land lag südlich der Bucht von Eldamar, unter den Osthängen der Pelóri, und seine langen und traurigen Küsten erstreckten sich weit in den Süden, lichtlos und unerforscht. Dort, unter den kahlen Wänden der Berge und an dem kalten, dunklen Meer, waren die tiefsten und dichtesten Schatten der Welt; und dort, in Avathar, geheim und keinem bekannt, hatte Ungoliant sichniedergelassen. Die Eldar wussten nicht,
Weitere Kostenlose Bücher