Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
Gerichte, bestand aus dünnen Scheiben Bierwurst, Leberwurst, Limburger Käse, kalten, gekochten Kartoffeln sowie Sauerkraut und Essiggurken. Friedrich entschuldigte sich. »Tut mir leid. Mehr kann ich dir nicht bieten. Hoffentlich hast du heute schon warm gegessen.«
Alfred nickte: »Eine Wurst im Zug. Hat nicht einmal schlecht geschmeckt.«
»Dafür dürfen wir uns auf den Nachtisch freuen. Ich habe den Koch gebeten, uns etwas Besonderes zu servieren – sein Sohn ist einer meiner Patienten, und nun backt er mir oft irgendwelche Leckereien. Aber nun«, Friedrich lehnte sich zurück und atmete erschöpft aus, »können wir uns endlich entspannen und plaudern. Zuerst muss ich dir von deinem Bruder erzählen. Gerade bekam ich einen Brief von Eugen, in dem er fragt, ob ich von dir gehört hätte. Wir haben uns in Berlin recht oft getroffen, aber vor ungefähr einem halben Jahr ist er nach Brüssel umgezogen. Er hat eine gute Stelle bei einer belgischen Bank. Seine Schwindsucht ist allmählich auf dem Rückzug.«
»O nein«, stöhnte Alfred.
»Wie? Dass sie sich zurückbildet, ist doch gut .«
»Ja, natürlich. Ich meinte aber ›Brüssel‹. Hätte ich gewusst, dass er dort lebt, wäre ich einen Tag geblieben.«
»Aber wie hättest du das wissen sollen? In Deutschland geht alles drunter und drüber. Eugen schrieb mir, dass er keine Ahnung hat, wo du lebst. Und auch nicht, wie. Alles, was ich ihm von unserem Treffen in Reval sagen konnte, war, dass du gehofft hattest, irgendwie nach Deutschland zu kommen. Wenn du willst, könnte ich vermitteln und eure Adressen austauschen.«
»Ja, ich würde ihm gern schreiben.«
»Gleich nach dem Abendessen hole ich seine Adresse. Sie ist in meinem Zimmer. Aber was hast du in Brüssel gemacht?«
»Willst du die ganze Geschichte hören oder eine Kurzfassung?«
»Die ganze Geschichte bitte. Ich habe viel Zeit.«
»Aber du bist bestimmt müde. Du musstest dir bestimmt den ganzen Tag die Probleme der Leute anhören? Wann hast du heute Morgen begonnen?«
»Ich arbeite seit sieben Uhr früh. Aber mit den Patienten zu sprechen ist etwas anderes, als mit dir zu sprechen. Du und Eugen, ihr seid alles, was mir von meinem Leben in Estland geblieben ist – ich war ein Einzelkind, und wie du dich vielleicht erinnerst, starb mein Vater, kurz bevor wir uns trafen. Meine Mutter ist vor zwei Jahren gestorben. Ich lege großen Wert auf meine Wurzeln – vielleicht sogar in einem irrationalen Maß. Und ich bedaure wirklich, dass wir uns das letzte Mal im Unfrieden getrennt haben – nur weil ich so gedankenlos war. Deshalb möchte ich die ganze Geschichte hören.«
Alfred erzählte bereitwillig über sein Leben in den vergangenen drei Jahren. Nein, er war mehr als bereitwillig: Während er erzählte, sickerte eine Wärme in seine Knochen, eine Wärme, die daraus entstand, dass er seine Lebensgeschichte jemandem erzählen durfte, der sie wirklich hören wollte. Er erzählte, wie er mit dem letzten Zug aus Reval herausgekommen war, von dem Viehtransporter nach München, von dem glücklichen Zufall, Dietrich Eckart getroffen zu haben, von seiner Tätigkeit als Zeitungsredakteur, davon, dass er der NSDAP beigetreten war, von seiner leidenschaftlichen Beziehung zu Hitler. Er sprach über seine wichtigsten Errungenschaften – über sein Werk Die Spur der Juden im Wandel der Zeit und über die Veröffentlichung der Protokolle der Weisen von Zion im vergangenen Jahr.
Die Protokolle der Weisen von Zion ließen Friedrich aufhorchen. Erst wenige Wochen zuvor hatte Friedrich bei einem Vortrag eines bedeutenden Historikers vor der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung, in dem es um die Frage gegangen war, weshalb die Menschen immer schon einen Sündenbock brauchten, von diesem Dokument gehört. Er hatte erfahren, dass die Protokolle der Weisen von Zion vorgeblicheine Sammlung von Vorträgen enthielten, welche im Jahre 1897 anlässlich des Ersten Zionistischen Kongresses in Basel gehalten wurden. Anhand dieser Vorträge wurde eine internationale jüdische Verschwörung aufgedeckt, die christliche Institutionen unterminieren, die Russische Revolution einleiten und den Weg zur jüdischen Vorherrschaft in der Welt ebnen sollte. Der Sprecher auf der psychoanalytischen Konferenz sagte, dass die Protokolle kürzlich in ihrer Gesamtheit von einer skrupellosen Münchner Zeitung neu aufgelegt worden waren, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass mehrere bedeutende wissenschaftliche Institutionen überzeugend
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