Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
vorbereitet hatte, erschrak er über den Schmerz, der ihn unerwartet durchzuckte – ein Schmerz von Heimatlosigkeit, ein Gefühl, verloren zu sein, zu wissen, dass er niemals mehr durch diese erinnerungsträchtigen Straßen der Jugend wandern würde, die Straßen Gabriels und Rebeccas und aller seiner Freunde und Nachbarn aus der Kinderzeit, die Straßen, über die all die geliebten Menschen gegangen waren, die nun niemals mehr einen Fuß auf irgendeine Straße dieser Erde setzen würden – sein Vater und seine Mutter, Michael und Hanna, seine Stiefmutter Ester und sein toter Bruder Isaac und seine tote Schwester Miriam. Bento ging weiter und kam an einer kleinen Geschäftszeile vorbei. Diese Straßen waren seine letzte greifbare Verbindung zu den Toten. Sie waren wie er über diese Straßen gewandert, und ihr Blick war auf dieselbe Szenerie gefallen: Mendozas koscherer Metzgerladen, Manuels Bäckerei, Simons Heringsstände. Doch nun würde diese Verbindung abreißen; nie wieder würde er seinen Blick auf etwas richten, was auch sein toter Vater, seine tote Mutter und seine Stiefmutter gesehen hatten. Einsamkeit – er spürte sie jetzt wie nie zuvor.
Fast augenblicklich beobachtete Bento ein entgegengesetztes Gefühl, das sich in seinem Kopf regte. »Freiheit«, flüsterte er. »Wie interessant!« Bento hatte diesen Gedanken nicht willentlich hervorgerufen – er hatte sich eingestellt, um dem Schmerz der Einsamkeit zu begegnen. Es war, als bemühte sein Geist sich automatisch um ein Gleichgewicht. Wie war das möglich? Gab es tief in seinem Innern eine Macht, unabhängig vom bewussten Wollen, eine Macht, welche Gedanken schuf, Schutz anbot und ihm erlaubte, erfolgreich zu sein?
»Ja, Freiheit«, sagte er – so lange schon hatte Bento es sich angewöhnt, langatmige Selbstgespräche zu führen –, »Freiheit ist das Gegenmittel. Endlich bist du von dem Joch der Tradition erlöst. Erinnere dich, wie sehr du dich nach Freiheit gesehnt hast. Freiheit von Gebeten, Ritualen und Aberglauben. Erinnere dich, wie sehr dein Leben von Ritualen eingeengt war. Die unzähligen, den Tefillin gewidmeten Stunden. Dreimal täglich die vorgeschriebenen Gebete in der Synagoge zu singen und immer wieder, wenn Wasser getrunken, ein Apfel oder sonst ein Happen gegessen wurde, wann immer es im Leben irgendein Ereignis gab. Erinnere dich an die endlosen Stunden, in denen du alphabetische Sündenlisten heruntergebetet, auf deine vollkommen unschuldige Brust geschlagen und um Vergebung gefleht hast.«
Auf einer Brücke über der Verwersgracht blieb Bento stehen, lehnte sich an das kalte Steingeländer, schaute ins tintenblaue Wasser und rief sich sein Studium der Kommentare zur Heiligen Schrift ins Gedächtnis. Tag um Tag, Nacht um Nacht, unzählige Stunden lang, hatte er über den Worten – manche banal, manche brillant – der unübersehbaren Armeen von Gelehrten gebrütet, die ihr ganzes Leben damit verbracht hatten, über die Bedeutung und die Auswirkungen der Worte Gottes in der Heiligen Schrift zu schreiben und über die Berechtigung und die Auswirkungen der vorgeschriebenen sechshundertdreizehn Mitzvot (Gebote), welche jeden Aspekt des jüdischen Lebens reglementierten. Und später, beim Studium der Kabbala mit Rabbi Aboab, wurden die Lektionen unendlich undurchsichtig, als er die geheimen Bedeutungen eines jeden Buchstabens und die Auswirkungen der einem jeden Buchstaben zugeordneten Zahlwerte gegenüberstellte.
Und dennoch hatte keiner der Rabbiner, die ihn ausbildeten, und auch keiner der Gelehrten früherer Zeiten jemals die Gültigkeit ihrer wesentlichen Texte angezweifelt und auch nicht, ob die Bücher Mose wirklich die Worte Gottes waren. Als er es vor mehr als einem Dutzend Jahren gewagt hatte, in einer Unterrichtsstunde über jüdische Geschichte nachzufragen, wie Gott ein Schriftstück mit so vielen Ungereimtheiten geschrieben haben konnte, hatte Rabbi Mortera langsam den Kopf gehoben, ihn ungläubig angestarrt und geantwortet: »Wie kannst du als einzelne Menschenseele, der du praktisch noch ein Kind bist, an Gottes Urheberschaft zweifeln und dich erdreisten, Gottes unendliche Weisheit und Gottes Absichten zu kennen? Weißt du nicht, dass die Verkündigung des Bündnisses mit Israel an Moses von Zehntausenden, ja Hunderttausenden, ja vom ganzen Volk Israel bezeugt wurde? Das haben mehr Menschen beobachtet als jedes andere Ereignis in der ganzen Geschichte.«
Der Tonfall des Rabbiners sollte der Klasse zu verstehen
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