Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
dargelegt hatten, dass es sich bei den Protokollen von Zion um einen Schwindel handelte. Wusste Alfred, dass sie ein Schwindel waren ? , fragte sich Friedrich. Hätte er sie in diesem Fall trotzdem veröffentlicht? Aber darüber verlor er kein Wort. Im Lauf seiner intensiven persönlichen Psychoanalyse während der letzten drei Jahre hatte Friedrich zuhören gelernt, und er hatte auch gelernt, zuerst zu denken und dann erst zu sprechen.
»Eckarts Gesundheit lässt zu wünschen übrig«, fuhr Alfred fort und kam sogleich auf seine Ambitionen zu sprechen. »Das betrübt mich, weil er ein wunderbarer Mentor ist, aber gleichzeitig weiß ich, dass seine bevorstehende Pensionierung mir den Weg zum Herausgeber des Völkischen Beobachters eröffnen wird , der ja die nationalsozialistische Parteizeitung ist. Hitler selbst hat mir gesagt, dass ich offenbar der beste Kandidat bin. Das Blatt wächst zusehends und wird bald als Tageszeitung erscheinen. Aber noch wichtiger wäre mir, dass ich durch meine Position als Herausgeber und durch meine Nähe zu Hitler irgendwann eine wichtige Rolle in der Partei spielen kann.«
Alfred beendete seinen Bericht mit einem wohlgehüteten Geheimnis: »Ich bereite gerade ein wirklich wichtiges Buch vor, das ich Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts nennen werde. Ich hoffe, dass dieses Werk jedem denkenden Menschen das Ausmaß der jüdischen Bedrohung der westlichen Zivilisation vor Augen führen wird. Ich werde viele Jahre daran schreiben müssen, aber irgendwann rechne ich damit, dass es die Nachfolge der Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts antreten wird , dieses bedeutenden Werkes von Houston Stewart Chamberlain. Nun, das ist meine Geschichte bis 1923.«
»Alfred, ich bin beeindruckt, was du in so kurzer Zeit erreicht hast. Aber du hast noch nicht zu Ende erzählt. Was machst du im Augenblick? Was ist mit Brüssel?«
»Ja, richtig. Ich habe dir alles erzählt, nur das nicht, was du wissen wolltest!« Dann erzählte Alfred ausführlich von seiner Reise nach Paris, Belgien und Holland. Aus ihm unerfindlichen Gründen unterließ er es allerdings, seinen Besuch im Spinoza-Museum in Rijnsburg zu erwähnen.
»Was für ereignisreiche drei Jahre, Alfred! Du musst stolz auf das sein, was du erreicht hast! Es ist mir eine Ehre, dass du mir so sehr vertraust. Aber ich vermute stark, dass du das alles und ganz besonders deine Ziele bis jetzt noch niemandem erzählt hast. Stimmt’s?«
»Stimmt. Stimmt sogar sehr. Ich habe seit unserem letzten Gespräch kein so persönliches Gespräch mehr geführt. An dir ist etwas, Friedrich, das mir den Mut gibt, mich zu öffnen.« Alfred wollte Friedrich gerade erzählen, dass er einige grundsätzliche Dinge an seiner Persönlichkeit ändern wolle, als der Koch mit zwei großen Stücken noch warmer Linzer Torte auftauchte.
»Frisch aus dem Ofen für Sie und Ihren Gast, Herr Dr. Pfister.«
»Wie nett von Ihnen, Herr Steiner. Wie geht es übrigens Ihrem Sohn Hans? Wie fühlt er sich diese Woche?«
»Tagsüber geht es ihm besser, aber seine Alpträume sind immer noch schrecklich. Fast jede Nacht höre ich ihn schreien. Seine Alpträume sind inzwischen meine eigenen Alpträume geworden.«
»In seinem Zustand sind Alpträume normal. Haben Sie Geduld – sie werden nachlassen, Herr Steiner. Sie lassen immer nach.«
»Woran leidet sein Sohn?«, fragte Alfred, nachdem der Koch wieder verschwunden war.
»Ich kann mit dir nicht über einen bestimmten Patienten sprechen, Alfred. Das fällt unter das Arztgeheimnis. Aber so viel kann ich sagen: Erinnerst du dich noch an die vielen Männer, die du im Wartezimmer gesehen hast? Alle, jeder Einzelne hat das gleiche Leiden: Kriegsneurose. Und genauso sieht es in allen Wartezimmern an allen Krankenhäusern Deutschlands aus, die Nervenleiden behandeln. Und alle leiden sehr stark: Sie sind leicht erregbar, können sich nicht konzentrieren, werden von Panikattacken und Depressionen heimgesucht. Sie erleben ihr Trauma immer und immer wieder neu. Tagsüber gehen ihnen fürchterliche Bilder durch den Kopf. In der Nacht sehen sie in ihren Alpträumen, wie ihre Kameraden in Stücke gerissen werden, und sie sehen ihren eigenen nahenden Tod. Auch wenn sie sich als Glückspilze empfinden, weil sie dem Tod entronnen sind, leiden alle unter dem Überlebenden-Syndrom – dem Schuldbewusstsein, überlebt zu haben, während so viele andere starben. Sie grübeln ständig, was sie hätten tun können, um ihre gefallenen Kameraden zu
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