Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
angeboten hast, mich anzuleiten, mir zu helfen, wie ich es am besten anpacken soll?«
»Ja, das weiß ich noch, und mein Angebot steht. Ich hoffe nur, dass ich noch die nötigen Voraussetzungen mitbringe, denn mein Kopf ist momentan mit den kleinen und großen Gedanken angefüllt, die mein Beruf so mit sich bringt. Seit unserem letzten Treffen habe ich nicht mehr an Spinoza gedacht. Wo fange ich am besten an?« Friedrich schloss die Augen. »Ich versetze mich zurück in meine Studienzeit und höre die Vorlesungen meines Philosophieprofessors. Ich erinnere mich an seine Worte, dass Spinoza eine übermächtige Figur der Geistesgeschichte war. Dass er ein sehr einsamer Mann war, den die Juden exkommuniziert haben, dessen Bücher von den Christen verboten wurden und der die Welt verändert hat. Er behauptete, dass Spinoza die moderne Ära einleitete, dass die Aufklärung und die wachsende Bedeutung der Naturwissenschaften mit ihm begannen. Manche sehen Spinoza als den ersten Menschen des Abendlandes, der ganz offen ohne jede religiöse Zugehörigkeit lebte. Ich erinnere mich, dass dein Vater die Kirche öffentlich verhöhnte. Eugen erzählte mir, dass er sich weigerte, einen Fuß in eine Kirche zu setzen, und zwar nicht einmal zu Ostern oder zu Weihnachten. Stimmt das?«
Er sah Alfred in die Augen, und Alfred nickte: »Stimmt.«
»Also hielt dein Vater es in Wirklichkeit ähnlich wie Spinoza. Vor Spinoza wäre ein so offener Widerstand gegen die Religion undenkbar gewesen. Und du hast gut beobachtet, als du seine Rolle bei der Demokratiebewegung in Amerika erkannt hast. Die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung wurde vom britischen Philosophen John Locke inspiriert, und dieser wiederum ließ sich von Spinoza inspirieren. Mal sehen: Was noch? Ach ja, ich erinnere mich, dass mein Philosophieprofessor ausdrücklich Spinozas Festhalten an Immanenz betonte. Weiß du, was ich damit meine?«
Alfred hob unsicher die Schultern und drehte die Handflächen fragend nach oben.
»Es ist das Gegenteil von ›Transzendenz‹. Es steht für die Vorstellung, dass diese weltliche Existenz alles ist, was es gibt, dass die Gesetze der Natur alles lenken und dass Gott und die Natur identisch sind. Spinozas Leugnen jeglichen Lebens im Jenseits war für die Philosophie nach ihm von monumentaler Bedeutung, denn das bedeutete, dass die ganze Ethik, jeder Kodex über den Sinn des Lebens und das Verhalten in dieser Welt, in diesem Leben beginnen muss.« Friedrich hielt inne. »Das ist ungefähr alles, was mir einfällt … Ach ja, ein Letztes noch: Mein Professor behauptete, Spinoza sei der intelligenteste Mensch gewesen, den es je gegeben hat.«
»Diese Behauptung kann ich unterschreiben. Egal, ob man seine Ansichten teilt oder nicht, er ist auf jeden Fall brillant. Ich bin sicher, dass Goethe, Hegel und alle unsere großen Denker das erkannt haben.«
Aber wie konnten solche Gedanken von einem Juden kommen?, wollte Alfred hinzufügen, ließ es aber sein. Möglich, dass beide Männer das Thema vermeiden wollten, das bei ihrem letzten Treffen zu einer solchen Verbitterung geführt hatte.
»Nun, Alfred, hast du die Ethik noch?«
Der Koch trat an den Tisch und servierte den Tee.
»Halten wir Sie auf?«, erkundigte sich Friedrich, nachdem er sich im Speisesaal umgesehen und festgestellt hatte, dass er und Alfred die einzigen Gäste waren.
»Nein, nein, Herr Dr. Pfister. Ich habe noch zu tun. Ich bin bestimmt noch ein paar Stunden da.«
Nachdem der Koch verschwunden war, sagte Alfred: »Ja, die Ethik habe ich noch, aber seit Jahren nicht mehr in die Hand genommen.«
Friedrich blies auf seinen Tee, trank einen Schluck und wandte sich wieder Alfred zu. »Ich glaube, jetzt ist die Zeit gekommen, sie zu lesen. Es ist eine schwierige Lektüre. Ich habe ein einjähriges Seminar darüber besucht, und wir haben in der Klasse oft eine geschlagene Stunde damit zugebracht, eine einzige Seite zu diskutieren. Ich rate dir, es langsam anzugehen. Das Buch ist unbeschreiblich dicht und berührt fast alle wichtigen Aspekte der Philosophie – Tugend, Freiheit und Determinismus, das Wesen Gottes, Gut und Böse, persönliche Identität, das Verhältnis zwischen Körper und Geist. Vielleicht war nur noch die Politeia Platons so breit gefächert.«
Friedrich warf abermals einen Blick über den leeren Speisesaal. »Auch wenn Herr Steiner aus Höflichkeit das Gegenteil behauptet, denke ich doch, dass wir ihn hier aufhalten. Gehen wir in mein Zimmer. Wenn ich
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