Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
besten Zeit wählen würde, diese Tage, geprägt von der Verbundenheit mit van den Enden und den anderen Schülern, mit denen er seine Latein- und Griechischkenntnisse perfektionierte und sich den großen Themen der antiken Welt zuwandte: Demokrits atomistischem Universum, Platons Form des Guten, Aristoteles’ Unbewegtem Beweger und der stoischen Ungebundenheit von Leidenschaften.
Sein Leben war schön durch seine Einfachheit. Bento stimmte mit Epikur vollkommen überein, der behauptete, die Bedürfnisse des Menschen seien gering und leicht zu erfüllen. Bento brauchte nur ein Zimmer mit Verpflegung, ein paar Bücher, Papier und Tinte. Die dafür notwendigen Gulden konnte er mit dem Schleifen von Linsen für Brillen an nur zwei Wochentagen und mit Hebräischunterricht für die Kollegianten verdienen, welche die Heilige Schrift in ihrer Originalsprache lesen wollten.
Die Lateinschule ermöglichte ihm nicht nur die Ausübung eines Berufes und gab ihm ein Zuhause, sondern bot ihm auch ein gesellschaftliches Leben – zuweilen mehr, als es Bento lieb war. Man erwartete von ihm, mit der Familie van den Enden und den in der Lateinschule beherbergten Schülern das Abendessen gemeinsam einzunehmen, doch stattdessen ging er oft mit einem Teller Brot und hartem holländischen Käse sowie mit einer Kerze in sein Zimmer und las. Sein häufiges Fehlen am Esstisch grämte Madame van den Enden, die ihn für einen gewandten Gesprächsteilnehmer hielt und erfolglos versuchte, ihn zu mehr Geselligkeit zu ermuntern. Sie bot ihm sogar an, seine Lieblingsgerichte zu kochen und auf koschere Zubereitung zu achten. Bento versicherte ihr, dass er sich in keiner Weise an Speisevorschriften hielte, sich aber nur nichts aus Essen machte und durchaus mit dem Einfachsten zufrieden wäre – mit Brot, Käse, seinem täglichen Glas Bier und seinem langstieligen Tonpfeifchen, das er zum Abschluss gern schmauchte.
Außerhalb der Unterrichtsstunden mied er die Gesellschaft seiner Kommilitonen mit Ausnahme von Dirk, der schon bald ausziehen wollte, um Medizin zu studieren, und natürlich der frühreifen, bewundernswerten Clara Maria. Doch im Allgemeinen zog er sich nach kurzer Zeit auch von diesen beiden zurück und gab der Gesellschaft der zweihundert gewichtigen, muffigen Bände in van den Endens Bibliothek den Vorzug.
Abgesehen von seinem Interesse an den wunderbaren Gemälden, die in den Kunsthandlungen der kleinen Gässchen ausgestellt waren, welche vom Rathaus abzweigten, hatte Bento für Kunst nicht viel übrig und widerstand van den Endens Bemühungen, seine ästhetische Sensibilität für Musik, Poesie und Erzählkunst zu steigern. Aber wenn es um die Leidenschaft des Direktors für das Theater ging, gab es kein Entrinnen. Klassisches Drama könne nur gewürdigt werden, betonte van den Enden stets, wenn es laut gelesen wurde. Also nahmen Bento und die anderen Schüler gehorsam an dramatisierten Lesungen der Klasse teil, auch wenn Bento zu schüchtern war, genügend Emotionen in seinen Text zu legen. Normalerweise stellte der Direktor des Amsterdamer Stadttheaters und van den Endens guter Freund der Lateinschule seine Bühne für wichtige Inszenierungen zur Verfügung, die vor kleinem Publikum, hauptsächlich Eltern und Freunden der Schüler, gezeigt wurden.
Im Winter 1658, über zwei Jahre nach Bentos Exkommunikation, wurde der Eunuchus von Terenz inszeniert. Bento spielte die Rolle des Parmeno, eines frühreifen Sklaven. Beim erstmaligen Durchlesen seines Texts musste er lächeln, als er den folgenden Abschnitt las:
»Wer diesen Hohn auf jegliche Vernunft
Methodisch zu betreiben dächte, käme
Wohl grad’ so weit wie einer, der verrückt
Sein wollte nach vernünftiger Methode.«
Bento wusste, dass van den Endens schräger Sinn für Humor im Spiel war, als er ihm diese Rolle zugewiesen hatte. Er hatte Bento ständig wegen seines hypertrophierten Rationalismus gescholten, der keinen Platz für ästhetische Sensibilität zuließe.
Die Aufführung war glanzvoll, die Schüler spielten ihre Rollen mit großem Vergnügen, das Publikum lachte oft und applaudierte lange (obwohl es von den lateinischen Dialogen wenig verstand), und Bento verließ das Theater in bester Stimmung und Arm in Arm mit seinen beiden Freunden Clara Maria (welche die Kurtisane Thaïs gespielt hatte) und Dirk (in der Rolle des Phaedria). Plötzlich trat ein Mann mit weit aufgerissenen Augen und irrem Blick aus der Dunkelheit und schwang ein langes Fleischermesser. Er
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