Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
brüllte auf Portugiesisch: » Herege, Herege !« (»Ketzer, Ketzer!«), stürzte sich auf Bento und zog ihm das Messer zweimal quer über den Bauch. Dirk kämpfte mit dem Angreifer und schlug ihn zu Boden, während Clara Maria Bento zu Hilfe eilte und seinen Kopf in ihren Armen barg. Dirk konnte mit seiner schmächtigen Statur dem Angreifer nichts entgegensetzen, der ihn abschüttelte und mit dem Messer in der Hand Hals über Kopf in die Dunkelheit floh. Van den Enden, ein früherer Arzt, eilte herbei und untersuchte Bento. Als er die beiden tiefen Schnitte in seinem schweren, schwarzen Mantel entdeckte, knöpfte er ihn hastig auf und sah, dass das Hemd ebenfalls zerfetzt und blutbefleckt war, das Messer aber nur die Haut geritzt hatte.
Bento, der unter Schock stand, konnte, gestützt von van den Enden und Dirk, die drei Häuserblocks auf eigenen Beinen nach Hause gehen und stieg langsam die Treppe hinauf in sein Zimmer. Die Baldriantropfen, die ihm der Lehrer/Arzt verabreichte, würgte er widerwillig hinunter. Er legte sich hin, Clara Maria setzte sich zu ihm ans Bett, hielt seine Hand, und bald fiel er in einen tiefen, zwölfstündigen Schlaf.
Am folgenden Tag regierte Chaos im Haushalt van den Endens. Frühmorgens klopften Beamte der Stadt an die Tür und holten Informationen über den Angreifer ein; später erschienen zwei Diener mit Briefen schockierter Eltern, die van den Enden vorwarfen, nicht nur ein skandalöses Stück über Sexualität und Transvestitismus aufgeführt, sondern auch einer jungen Frau (seiner Tochter) erlaubt zu haben, eine Rolle darin zu spielen – und noch dazu die einer Kurtisane. Der Schulleiter blieb jedoch bemerkenswert ruhig – nein, mehr als ruhig –, die Briefe erheiterten ihn vielmehr, und er lachte in sich hinein, als er daran dachte, dass Terenz sich angesichts dieser empörten, calvinistischen Eltern bestimmt köstlich amüsiert hätte. Bald beruhigte seine Heiterkeit die ganze Familie, und der Schulleiter machte sich wieder daran, seine Kurse für Griechisch und die Klassiker zu geben.
Oben in der Dachstube wurde Bento noch immer von Ängsten geplagt, er konnte die Beklemmung in seinem Brustkorb kaum aushalten. Ständig marterten ihn Bilder des Überfalls, die »Ketzer!«-Schreie, das blitzende Messer, der Druck der Klinge, die seinen Mantel durchschnitt, sein Sturz unter dem Gewicht des Angreifers auf das Straßenpflaster. Um sich zu beruhigen, nahm er seine bewährte Waffe zu Hilfe, das Schwert der Vernunft, doch an diesem Tag konnte es gegen seine Panik nichts ausrichten.
Bento gab nicht auf. Er versuchte, seine Atmung mit langen, bewussten Atemzügen zu verlangsamen, und beschwor bewusst das beängstigende Bild seines Angreifers herauf: dessen Vollbart, die aufgerissenen Augen und den Schaum vor dem Mund wie bei einem tollwütigen Hund. Er stierte so lange in das Antlitz dieses Mannes, bis das Bild sich auflöste. »Beruhige dich«, murmelte er. »Denke nur an diesen Augenblick. Verschwende keine Energie an etwas, das du nicht beeinflussen kannst. Du kannst die Vergangenheit nicht beeinflussen. Du hast Angst, weil du dir vorstellst, dieser vergangene Vorfall fände jetzt in der Gegenwart statt. Dein Geist erschafft das Bild. Dein Geist erschafft deine Emotionen auf das Bild. Konzentriere dich nur darauf, deinen Geist zu kontrollieren.«
Aber all die ausgefeilten Formeln, die er in seinem Notizbuch aufgeschrieben hatte, vermochten nicht, sein hämmerndes Herz zu beruhigen. Er fuhr fort, sich mit Vernunft zu trösten. »Vergiss nicht: Alles in der Natur hat eine Ursache. Du, Bento Spinoza, bist ein unbedeutendes Element in diesem riesigen Kausalzusammenhang. Denk an die lange Zeitlinie des Attentäters, die lange Kette von Ereignissen, die unausweichlich zu seinem Angriff führte.« Welche Ereignisse?, fragte sich Bento. Vielleicht aufrührerische Reden des Rabbiners? Vielleicht traurige Vorkommnisse im vergangenen oder im gegenwärtigen Privatleben des Angreifers? Über all diese Gedanken brütete Bento, während er in seinem Zimmer auf und ab ging.
Dann hörte er ein leises Klopfen. Er war nur einen Schritt von der Tür entfernt, streckte die Hand zur Klinke aus und öffnete abrupt. Clara Maria und Dirk standen im Eingang, ihre Hände berührten sich, ihre Finger waren ineinander verhakt. Schnell zuckten ihre Hände zurück, dann traten sie in sein Zimmer.
»Bento«, stammelte eine verwirrte Clara Maria. »Oh, Sie sind schon wieder auf den Beinen? Erst vor einer
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