Im Himmel mit Ben: Roman (German Edition)
1
Der Kater verfolgt mich
Es stimmt nicht, dass die Zeit alle Wunden heilt.
Ich vermisse Ben von Tag zu Tag mehr.
Am liebsten würde ich mich ständig ins Bett verkriechen, die Decke über meinen Kopf ziehen und nicht wieder aufstehen. Aber ich habe mir vorgenommen, wenigstens jeden Morgen zu duschen, zu frühstücken und dann ein wenig Zeit an der frischen Luft zu verbringen.
Mit einer Tasse Kaffee stehe ich am Fenster in meiner Küche und schaue hinaus in den Garten. Er könnte ein wenig Pflege gebrauchen. Die Beete stehen voller Unkraut, und der Rasen müsste gemäht werden. Lustlos seufze ich auf. Da taucht plötzlich der graue Kater auf, der seit Tagen immer wieder in meinem Garten herumlungert. Er schleicht durch das hohe Gras bis zum Apfelbaum, springt den Stamm hinauf und klettert in die Baumkrone. Dort nimmt er auf seinem Lieblingsast Platz und schaut zu mir in die Küche.
»Du schon wieder …«
Dass der Kater wieder mal in meinem Baum sitzt, passt mir ganz und gar nicht. Er erinnert mich an Ben – und daran, dass ich ihn niemals wiedersehen werde. Außerdem konnte ich Katzen noch nie leiden.
Bens Kater machte da absolut keine Ausnahme. Dem verwöhnten Tier war normales Katzenfutter nicht gut genug, lieber verspeiste er Fleischpastete oder Thunfischfilets. Hatte er Durst, stolzierte er immer frech über die Arbeitsplatte zum Geschirrspülbecken und blieb so lange davor sitzen, bis Ben endlich den Wasserhahn aufdrehte. Caruso fand es anscheinend langweilig, aus einem stinknormalen Napf zu trinken. Lieber kämpfte er minutenlang mit seinen Pfoten gegen den Wasserstrahl und trank erst, wenn die ganze Umgebung unter Wasser stand. Das schien Ben jedoch kein bisschen zu stören. Er überlegte tatsächlich, dem Kater zuliebe die alte Armatur gegen eine moderne mit Sensor auszutauschen. Er war sich sicher, Caruso würde sehr schnell herausfinden, wie er ohne fremde Hilfe seinen Durst löschen könnte. Meinen Einwand, dies würde innerhalb kürzester Zeit zu einer Überschwemmung der gesamten Küche führen, ignorierte Ben.
Den ungebetenen Gast in meinem Garten einfach ebenfalls zu ignorieren, gelingt mir leider nicht. Energisch stelle ich meine Kaffeetasse ab, reiße das Fenster auf und rufe hinaus: »Hau endlich ab, du blödes Vieh!« Danach klatsche ich mehrmals laut in die Hände, aber der Kater bleibt seelenruhig auf dem Baum sitzen und beobachtet mich unbeirrt weiter. So geht das schon seit Tagen.
Aufgebracht greife ich nach dem Telefon und rufe meine Freundin an.
»Rici? Der Kater verfolgt mich, ganz sicher. Er ist schon wieder da. Und er sieht Caruso verteufelt ähnlich. Vielleicht ist er es sogar.«
»Sehen die Viecher nicht alle irgendwie gleich aus? Bestimmt ist es irgendein Kater aus der Nachbarschaft. Hast du dich mal umgehört?«
»Nein, habe ich nicht. Und wenn er es doch ist?«
»Dann ist der gute Caruso den ganzen Weg von Düsseldorf bis nach Neuss gelaufen, nur um ausgerechnet bei dir sein zu können. Das glaubst du doch selbst nicht! Er konnte dich genauso wenig leiden wie du ihn. Außerdem, wie soll er dich denn gefunden haben? Man sagt zwar, dass Katzen über einen guten Orientierungssinn verfügen und immer den Weg zurück nach Hause finden. Aber Caruso war nicht bei dir zu Hause. Dazu kommt, dass du erst vor zwei Monaten umgezogen bist.«
»Hm …«
»Ruf doch Bens Eltern an, wenn es dir wirklich keine Ruhe lässt. Vielleicht wissen die was. Wenn es tatsächlich Caruso ist, müssten sie ihn eigentlich vermissen. Es sei denn, sie haben ihn direkt vor deiner Tür ausgesetzt. Das kann ich mir zwar beim besten Willen nicht vorstellen, aber man weiß ja nie. Wenigstens hättest du dann Gewissheit. Wo ist der Kater denn jetzt?«
»Er sitzt immer noch im Baum und starrt zu mir rüber.«
»Komm schon, Marly, gib dir einen Ruck. Das wolltest du doch sowieso längst schon machen und hast es immer wieder aufgeschoben. Irgendwann bereust du es vielleicht. Jetzt hast du wenigstens einen Grund, dort anzurufen. Karin freut sich bestimmt, wieder mal etwas von dir zu hören. Du hast selbst gesagt, du warst immer wie eine Tochter für sie.«
»Das kann ich nicht, Rici, auch wenn ich es gern würde, ehrlich. Ich nehme es mir jeden Tag vor, aber dann fang ich schon an zu heulen bei dem Gedanken, Karins Stimme auch nur zu hören. Ich bin einfach noch nicht soweit. Ich glaube, es war alles ein bisschen viel die letzte Zeit. Und jetzt, wo langsam Ruhe einkehrt, ist es nur noch schlimmer
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