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Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Titel: Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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die Szene ein und nahm sich vor, noch am selben Abend eine Kohlezeichnung davon anzufertigen.
    Im dritten Stockwerk wurde er von van den Enden und sechs weiteren Schülern der Akademie begrüßt; einer der jungen Leute lernte Latein, und fünf hatten sich schon zur griechischen Sprache vorgearbeitet. Van den Enden begann den Abend wie immer mit einem Lateindiktat, das die Schüler entweder ins Holländische oder Griechische übersetzen mussten. In der Hoffnung, seinen Schülern die Leidenschaft für die Beherrschung neuer Sprachen einzuimpfen, unterrichtete van den Enden anhand von Texten, die er nicht nur für interessant, sondern auch für unterhaltsam hielt. Ovid war der Text der letzten drei Wochen gewesen, und an diesem Abend las van den Enden einen Abschnitt aus der Geschichte des Narcissus.
    Im Gegensatz zu den anderen Schülern zeigte Spinoza nur geringes Interesse an geheimnisvollen Geschichten über wunderliche Metamorphosen. Bald war es offensichtlich, dass er keine unterhaltsamen Texte brauchte. Stattdessen hatte er eine Leidenschaft fürs Lernen und eine atemberaubende Sprachbegabung. Obwohl van den Enden sofort gewusst hatte, dass Bento ein außergewöhnlicher Schüler wäre, erstaunte es ihn immer wieder, wie er jedes Konzept, jede Allgemeingültigkeit und jede grammatikalische Eigentümlichkeit schon begriff und sich merkte, bevor die Erklärungen die Lippen seines Lehrers verlassen hatten.
    Die täglichen Lateinübungen wurden von van den Endens Tochter Clara Maria betreut, einer schlaksigen Dreizehnjährigen mit Schwanenhals, verführerischem Lächeln und gekrümmter Wirbelsäule. Clara war, was Sprachen anging, selbst ein Wunderkind und demonstrierte vor den anderen Schülern schamlos ihre Gewandtheit, indem sie stets zwischen mehreren Sprachen wechselte, wenn sie mit ihrem Vater den täglichen Unterricht für jeden Schüler besprach. Anfangs war Bento schockiert: Einer der jüdischen Grundsätze, die er nie in Frage stellte, war die Unterlegenheit von Frauen – weniger Rechte und weniger Verstand. Obwohl Clara Maria ihn in Erstaunen versetzte, betrachtete er sie gleichwohl als Kuriosität, als Laune der Natur, und er sollte seine Ansicht niemals ändern, dass Frauen im Allgemeinen den Männern intellektuell weit unterlegen waren.
    Sobald van den Enden mit den fünf Schülern, die Griechisch lernten, den Raum verlassen hatte, begann Clara Maria mit einer bei einer Dreizehnjährigen fast schon komisch anmutenden Ernsthaftigkeit, mit Bento und einem deutschen Schüler, Dirk Kerckrinck, die Vokabeln und Deklinationen zu üben, die man ihnen als Hausaufgabe aufgegeben hatte. Dirk lernte Latein, eine Voraussetzung für seine Zulassung zum Medizinstudium in Hamburg. Nach den Vokabeln wies Clara Maria Bento und Dirk an, ein bekanntes holländisches Gedicht von Jacob Cats, in dem es um das anständige Benehmen junger, unverheirateter Frauen ging, ins Lateinische zu übersetzen. Clara Maria las das Gedicht ihren Schülern unvergleichlich charmant vor, und als Dirk ihre Darbietung beklatschte und Bento es ihm eilig nachtat, strahlte sie übers ganze Gesicht, stand auf und verbeugte sich.
    Die letzte Stunde war für Bento immer der Höhepunkt des ganzen Abends. Alle acht Schüler kamen im größeren Klassenzimmer zusammen – dem einzigen mit Fenstern – und lauschten van den Enden, der einen Diskurs über die antike Welt hielt. Sein Thema an diesem Abend war die griechische Vorstellung von Demokratie, seiner Ansicht nach die perfekteste Regierungsform, selbst wenn er zugeben musste – und hier warf er einen kurzen Blick zu seiner Tochter, die an allen seinen Veranstaltungen teilnahm –, dass »die griechische Demokratie über fünfzig Prozent der Bevölkerung ausschloss, nämlich Frauen und Sklaven«. Er fuhr fort: »Bedenken Sie die paradoxe Stellung der Frau im griechischen Drama: Auf der einen Seite war es den Frauen überhaupt verboten, Aufführungen zu besuchen, und erst in späteren, aufgeklärteren Jahrhunderten wurden sie zwar in die Amphitheater vorgelassen, durften aber nur auf den Plätzen mit der schlechtesten Sicht sitzen. Und betrachten Sie auf der anderen Seite die Heldinnen im Drama – stahlharte Frauen, die Protagonistinnen der bedeutendsten Tragödien von Sophokles und Euripides. Ich will Ihnen drei der eindrucksvollsten Gestalten in der ganzen Literatur nennen: Antigone, Phaedra und Medea.«
    Nach seiner Präsentation, während der er Clara Maria anwies, einige der stärksten Passagen

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