Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
antworten. Schließlich schüttelte er den Kopf und flüsterte: »Sephardisch.«
» Ah, ihr zayt an undzeriker. Ot iz a matone fun Rifke .« (Ach, dann bist du einer von uns. Hier ist ein Geschenk von Rifke.) Sie griff in ihre Schürzentasche, drückte ihm einen Kanten Brot in die Hand und zeigte zum Kanal.
Er bedankte sich mit einem Nicken, und als sie fortging, schlug Bento sich vor die Stirn und murmelte: » Taschlich . Erstaunlich … es ist Rosh Hashanah – wie konnte ich das nur vergessen haben?« Er kannte die Taschlich -Zeremonie gut. Seit Jahrhunderten feierten jüdische Gemeinden den Gottesdienst an Rosh Hashanah an einem fließenden Gewässer, der damit endete, dass die Gläubigen Brot ins Wasser warfen. Die Worte der Heiligen Schrift fielen ihm wieder ein: »Der Herr wird sich unser wieder erbarmen, unsere Missetaten dämpfen und alle unsere Sünden in die Tiefe des Meers werfen.« (Micha 7:19).
Er trat noch ein paar Schritte näher, um dem Rabbiner zu lauschen, der seine Gemeinde, die Männer, die sich dichtgedrängt um ihn versammelt hatten, und die Frauen in einem äußeren Kreis, dazu aufrief, an alles zu denken, was sie im vergangenen Jahr bedauerten, alle lieblosen Taten, ihre unedlen Gedanken, ihren Neid, ihren Stolz und ihre Schuld, und er wies sie an, alles abzuschütteln, unwerte Gedanken ebenso fortzuwerfen, wie sie nun ihr Brot fortwarfen. Der Rabbiner warf sein Brot ins Wasser, und augenblicklich taten die anderen es ihm gleich. Bento griff einen kurzen Moment lang in seine Tasche, in die er sein Brot gesteckt hatte, zog dann die Hand aber wieder zurück. Es missfiel ihm, an irgendeinem Ritual teilzunehmen, und abgesehen davon war er nur Zuschauer und zu weit vom Kanal entfernt. Der Rabbiner sang die Gebete auf Hebräisch, und Bento murmelte die Worte reflexartig mit. Es war alles in allem eine angenehme und ausgesprochen gefühlvolle Zeremonie, und als die Gruppe sich zum Gehen wandte und den Rückweg zur Synagoge antrat, nickten ihm viele zu und wünschten: » Gut Yontef« (»Schöne Feiertage«). Er antwortete mit einem Lächeln » Gut Yontef dir « (»Dir schöne Feiertage«). Er mochte ihre Gesichter; das waren bestimmt gute Menschen. Auch wenn sich ihre Erscheinung von seiner eigenen sephardischen Gemeinde unterschied, erinnerten sie ihn doch an die Menschen, die er als Kind gekannt hatte. Einfach, aber rücksichtsvoll. Heiter und im Einklang miteinander. Er vermisste sie. Oh, wie sehr er sie vermisste.
Als er zu Simons Haus wanderte und dabei an Rifkes Brot knabberte, dachte Bento über dieses Erlebnis nach. Offensichtlich hatte er die Macht der Vergangenheit unterschätzt. Ihr Stempel ist unauslöschlich. Er kann nicht entfernt werden: Er färbt die Gegenwart und nimmt gewaltigen Einfluss auf Gefühle und Handlungen. Klarer als je zuvor verstand er, wie unbewusste Gedanken und Gefühle zur Verknüpfung von Ursachen gehören. So vieles wurde klar: die Heilkraft, zu der er Franco inspirierte, der starke, wehmütige Sog der Taschlich -Zeremonie, ja selbst der außergewöhnliche Geschmack von Rifkes Brot, das er bedächtig kaute, als wollte er jede einzelne Geschmacksnuance auskosten. Und darüber hinaus wusste er mit Gewissheit, dass seine Seele ganz bestimmt einen unsichtbaren Kalender barg: Obwohl er Rosh Hashanah vergessen hatte, hatte sich ein Teil seiner Seele daran erinnert, dass dieser Tag den Beginn eines neuen Jahres markierte. Vielleicht war es dieses verborgene Wissen, das der Unpässlichkeit zugrunde lag, die ihn schon den ganzen Tag plagte. Bei diesem Gedanken lösten sich das Schmerzgefühl und die Schwere in seinem Körper in Luft auf. Er beschleunigte seine Schritte, als er auf Amsterdam und das Haus von Simon de Vries zusteuerte.
** Ach! Wären alle Menschen weise
Und wollten Gutes noch dazu!
Dann wär die Welt ein Paradies
Jetzt ist sie meist eine Hölle.
28
FRIEDRICHS BÜRO, OLIVAER PLATZ 3, BERLIN, 1925
»Denn nicht Sie, meine Herren, sprechen das Urteil über uns, das Urteil spricht das ewige Gericht der Geschichte, das sich aussprechen wird über die Anklage, die gegen uns erhoben ist. … Mögen Sie uns tausendmal schuldig sprechen, die Göttin des ewigen Gerichts der Geschichte wird lächelnd den Antrag des Staatsanwaltes und das Urteil des Gerichtes zerreißen; denn sie spricht uns frei.«
Adolf Hitler, letzte Worte aus seiner Rede
beim Prozess in München 1924
»Am 25. April 1925 war der VB wieder als Tageszeitung erschienen. Und wer wurde
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