Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
behielt die Vernunft die Oberhand. Bento bewahrte sein inneres Gleichgewicht und ließ nicht zu, dass Leidenschaften die Beziehung zu seinen beiden guten Freunden zerstörten.
Trotzdem klammerte Bento sich an die sinnliche Erinnerung an Clara Maria, die die ganze Nacht nach dem Überfall seine Hand gehalten hatte. Und er rief sich auch in Erinnerung, wie Franco seine Schulter gedrückt und er und Gabriel einander oft an den Händen gehalten hatten. Von nun an würde es für ihn keine Berührungen mehr geben, so sehr sein Körper sich auch danach verzehrte. Manchmal stahlen sich Phantasien einer Berührung oder Umarmung Clara Marias oder ihrer Tante Martha in seine Gedanken, die er ebenfalls attraktiv fand, aber diese ließen sich leicht fortwischen. Mit seinen nächtlichen Sehnsüchten verhielt es sich allerdings anders: Weder konnte er Türen zusperren, die ihn am Betreten seiner Traumwelten hinderten, noch konnte er gegen den nächtlichen Samenerguss ankämpfen, der oftmals Flecken auf seiner Bettwäsche hinterließ. All das behielt er natürlich für sich, doch falls er Franco doch einmal davon erzählen sollte, wusste er dessen Antwort schon im Voraus: »Das war schon immer so – der Sexualtrieb gehört zu unserer Kreatürlichkeit; er ist die Macht, die unsere Art fortbestehen lässt.«
Obwohl Bento die Weisheit von Francos Rat erkannte, Amsterdam zu verlassen, blieb er dennoch mehrere weitere Monate dort wohnen. Seine linguistischen Fähigkeiten wie auch seine Gabe, logisch zu denken, führten dazu, dass viele Kollegianten sich an ihn wandten, wenn sie Hilfe bei der Übersetzung hebräischer und lateinischer Schriften brauchten. Bald riefen die Kollegianten einen Philosophie-Club ins Leben, dessen Vorsitzender sein Freund Simon de Vries war. Die Clubmitglieder trafen sich regelmäßig und diskutierten oft Gedanken, die Bento formuliert hatte.
Doch dieser wachsende Kreis von Anhängern, so heilsam es für sein Selbstwertgefühl auch war, nahm einen großen Teil seiner Zeit in Anspruch, was es ihm erschwerte, sich voll auf die Gedanken zu konzentrieren, die in seinem Kopf sprossen. Mit Simon de Vries sprach er über seinen Wunsch nach einem ruhigeren Leben, und bald fand Simon mit Hilfe anderer Mitglieder des Philosophie-Clubs ein Haus in Rijnsburg, wo er wohnen konnte. Rijnsburg, eine kleine Gemeinde am Fluss Vliet, vierzig Kilometer von Amsterdam entfernt, war nicht nur das Zentrum der Kollegianten-Bewegung, sondern lag auch angenehm nahe an der Universität Leiden, an welcher Bento, der die lateinische Sprache mittlerweile fast perfekt beherrschte, Philosophievorlesungen besuchen und die Gesellschaft anderer Wissenschaftler genießen konnte.
Rijnsburg war genau nach Bentos Geschmack. Das Haus war ein robustes Steinhaus mit mehreren kleinen Fenstern, von denen aus der Blick auf einen gepflegten Garten mit Apfelbäumen ging. An der Wand neben dem Eingang war ein kurzer Vers aufgemalt, der die Unzufriedenheit vieler Kollegianten über den Zustand der Welt ausdrückte:
Ach! Waren alle Menschen wijs
En wilden daarbij wel!
De Aard waar haar een Paradijs,
Nu isse meest een Hel. **
Bentos Quartier lag im Erdgeschoss und bestand aus zwei Zimmern. Eines benutzte er für seine Studien, die rasch wachsende Bibliothek und sein Himmelbett; das andere, kleinere, beherbergte die Werkstatt und seine Werkzeuge zum Linsenschleifen. Dr. Hooman, ein Chirurg, wohnte mit seiner Frau in der anderen Hälfte des Hauses, bestehend aus einer großen Wohnküche und einem Schlafzimmer im Obergeschoss, zu dem eine steile Treppe hinaufführte.
Bento bezahlte einen kleinen zusätzlichen Obolus für das Abendessen, das er normalerweise gemeinsam mit Dr. Hooman und seiner ausgesprochen sympathischen Frau einnahm. Manchmal freute er sich auf ihre Gesellschaft, wenn er den ganzen Tag zurückgezogen mit Schreiben und dem Schleifen seiner Linsen verbracht hatte. War er aber von einem Gedanken besonders gefesselt, fiel er auf alte Gewohnheiten zurück, nahm die Mahlzeiten in seinem Zimmer ein, betrachtete die reich tragenden Apfelbäume im Garten hinter dem Haus, dachte und schrieb.
So verging ein Jahr auf ausgesprochen angenehme Weise. An einem Morgen im September fühlte Bento sich beim Aufwachen nicht wohl, war antriebslos und hatte überall Schmerzen. Trotzdem beschloss er, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, nach Amsterdam zu reisen und einige sorgfältig geschliffene Teleskoplinsen bei einem Kunden abzuliefern. Zudem rechnete sein
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