Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
sein älterer Bruder, gut zehn Zentimeter größer und bedeutend stärker. Aber seine Augen blickten, wie es schien, nicht mehr hinaus in die Ferne.
Schweigend saßen die Brüder nebeneinander. Normalerweise liebte Bento die Ruhe und fühlte sich durchaus wohl, wenn er mit Gabriel am Tisch sitzen oder Seite an Seite mit ihm im Laden arbeiten konnte, ohne ein Wort zu wechseln. Aber die Stille an diesem Tag war drückend und gebar düstere Gedanken. Bento dachte an seine Schwester Rebecca, die in der Vergangenheit immer geschwätzig und quirlig gewesen war. Nun schwieg auch sie und wandte den Blick ab, wann immer sie ihn sah.
Und still waren auch die Toten, alle, die in diesem Bett gelegen hatten: seine Mutter Hanna, die vor zwanzig Jahren gestorben war, als er kaum sechs Jahre alt war, sein älterer Bruder Isaac vor sechs Jahren, seine Stiefmutter Ester vor drei Jahren und sein Vater und seine Schwester Miriam erst vor zwei Jahren. Von seinen Geschwistern – jener lärmenden, übermütigen Bande, die zusammen spielte, die sich balgte, die versuchte, ohne Mutter zurechtzukommen, um sie trauerte und mit der Zeit ihre Stiefmutter Ester lieben lernte – waren nur Rebecca und Gabriel übriggeblieben, die sich bald beide von ihm zurückzogen.
Bento schaute in Gabriels aufgedunsenes, bleiches Gesicht und brach die Stille: »Du hast wieder schlecht geschlafen, Gabriel? Ich habe gemerkt, wie du dich hin- und hergeworfen hast.«
»Ja, wieder einmal. Bento, wie soll ich denn schlafen? Nichts ist jetzt gut. Was soll man tun? Was muss man tun? Ich hasse die Probleme zwischen uns. Sieh her, ich kleide mich heute Morgen für den Sabbat an. Zum ersten Mal in dieser Woche scheint die Sonne, es gibt ein wenig blauen Himmel, und ich sollte wie jeder andere, wie die Nachbarn rechts und links von uns, Freude empfinden. Stattdessen ist mein Leben wegen meines eigenen Bruders – vergib mir, Bento, aber ich würde es nicht aushalten, könnte ich es nicht frei heraus sagen: Deinetwegen ist mein Leben erbärmlich. Ich empfinde keine Freude, wenn ich in meine Synagoge gehe, um meine Leute zu treffen und zu meinem Gott zu beten.«
»Es schmerzt mich, das zu hören, Gabriel. Ich sehne mich danach, dich glücklich zu sehen.«
»Worte sind eine Sache, Taten eine andere.«
»Was für Taten?«
»Was für Taten?«, rief Gabriel. »Allein der Gedanke daran, dass ich schon so lange, mein ganzes Leben lang, immer dachte, du wüsstest alles. Jedem anderen, der mir eine solche Frage stellte, würde ich antworten: ›Du machst Spaß‹, aber ich weiß, dass du niemals Spaß machst. Aber bestimmt weißt du, welche Taten ich meine.«
Bento seufzte.
»Nun, fangen wir damit an, dass du jüdische Gebräuche und sogar die Gemeinde ablehnst. Und dann damit, dass du den Sabbat entweihst. Und dass du dich von der Synagoge abwendest und in diesem Jahr so gut wie nichts gespendet hast – das sind die Taten, die ich meine.«
Gabriel sah Bento an, der immer noch schwieg.
»Ich will dir weitere Taten nennen, Bento. Erst vergangene Nacht die Tat, die Einladung zum Sabbatmahl bei Sarah zu Hause auszuschlagen. Du weißt, dass ich Sarah heiraten werde, aber du führst die beiden Familien nicht zusammen, indem du den Sabbat mit uns begehst. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich dabei fühle? Wie unsere Schwester Rebecca sich fühlt? Welche Entschuldigung können wir anführen? Können wir sagen, dass unser Bruder es vorzieht, bei seinem Jesuiten Latein zu lernen?«
»Gabriel, das Sabbatmahl ist für alle leichter verdaulich, wenn ich nicht daran teilnehme. Das weißt du. Du weißt, dass Sarahs Vater abergläubisch ist.«
»Abergläubisch?«
»Ich meine extrem orthodox. Du hast selbst erlebt, dass allein meine Anwesenheit ihn zu religiösen Streitgesprächen herausfordert. Du hast selbst erlebt, dass jede Antwort, die ich gebe, nur weitere Dissonanzen sät, was dich und Rebecca noch mehr grämt. Meine Abwesenheit dient dem Frieden – daran habe ich keinen Zweifel. Meine Abwesenheit bedeutet Frieden für dich und für Rebecca. Über diese Gleichung denke ich immer häufiger nach.«
Gabriel schüttelte den Kopf. »Bento, erinnere dich, wie ich mich als Kind manchmal ängstigte, weil ich mir vorstellte, dass die Welt verschwindet, sobald ich die Augen schließe. Du hast mein Denken korrigiert. Du hast mich mit der Wirklichkeit und den ewig gültigen Gesetzen der Natur beschwichtigt. Doch nun begehst du den gleichen Fehler. Du stellst dir vor, dass die
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