Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
Gottes zu belassen. Du hast kein Recht, die Gesetze unserer religiösen Gemeinschaft anzuzweifeln. Und was die Knechtschaft betrifft, so ziehe ich sie der Ächtung vor. Abgesehen davon sprach Sarahs Vater nicht nur von diesem Rechtsstreit. Möchtest du hören, was er außerdem sagte?«
»Ich denke, dass du es mir erzählen möchtest.«
»Er sagte, dass das ›Spinoza-Problem‹, wie er es nennt, viele Jahre zurückverfolgt werden kann, bis zurück zu deiner Unverfrorenheit bei der Vorbereitung deiner Bar Mitzwa . Er erinnerte sich, dass Rabbi Mortera dich vor allen anderen Schülern bevorzugte. Dass er in dir seinen möglichen Nachfolger sah. Und dann nanntest du die biblische Geschichte von Adam und Eva eine ›Fabel‹. Als der Rabbi dich dafür tadelte, dass du Gottes Wort leugnetest, hättest du ihm geantwortet: ›Die Thora ist wirr, denn falls Adam der erste Mensch gewesen ist, wen genau hat dann Kain, sein Sohn, geheiratet?‹ Hast du das gesagt, Bento? Stimmt es, dass du die Thora als ›wirr‹ bezeichnet hast?«
»Es stimmt, dass die Thora Adam als den ersten Menschen nennt. Und es stimmt, dass darin steht, dass sein Sohn Kain geheiratet hat. Dann haben wir doch bestimmt das Recht, die offensichtliche Frage zu stellen: Wenn Adam der erste Mensch war, wie konnte es da jemanden für Kain zum Heiraten gegeben haben? Diese Frage – sie wird auch die ›prä-adamische Frage‹ genannt – wird seit über tausend Jahren in der Bibelforschung diskutiert. Wenn du mich also fragst, ob es eine Fabel ist, ist meine Antwort: Ja – ganz offensichtlich ist die Geschichte nur eine Metapher.«
»Du sagst das, weil du sie nicht verstehst. Übertrifft deine Weisheit etwa die von Gott? Weißt du nicht, dass es Gründe gibt, weshalb wir unwissend sein müssen, und dass wir es unseren Rabbinern überlassen müssen, die Schriften zu interpretieren und klarzustellen?«
»Diese Einstellung kommt den Rabbinern wunderbar gelegen, Gabriel. Männer der Kirche trachten seit Urzeiten danach, die einzigen legitimen Deuter von Mysterien zu sein. Das kommt ihnen sehr zupass.«
»Saras Vater sagte, dass diese Anmaßung, die Bibel und unsere religiösen Führer in Frage zu stellen, nicht nur für die Juden beleidigend und gefährlich ist, sondern auch für die christliche Gemeinde. Die Bibel ist auch ihnen heilig.«
»Gabriel, du bist der Meinung, dass wir die Logik verlassen sollten, dass wir unser Recht nachzufragen aufgeben sollten?«
»Über dein persönliches Recht auf Logik und dein Recht, das rabbinische Gesetz in Frage zu stellen, streite ich mich nicht. Ich stelle nicht dein Recht in Frage, die Heiligkeit der Bibel anzuzweifeln. Tatsächlich stelle ich nicht einmal dein Recht in Frage, Gott zu zürnen. Das ist deine Angelegenheit. Vielleicht ist es deine Krankheit. Aber du verletzt mich und deine Schwester mit deiner Weigerung, deine Ansichten für dich zu behalten.«
»Gabriel, dieses Gespräch mit Rabbi Mortera über Adam und Eva fand vor über zehn Jahren statt. Seitdem habe ich meine Ansichten für mich behalten. Aber vor zwei Jahren schwor ich mir, ein gottgefälliges Leben zu führen, was auch bedeutet, niemals mehr zu lügen. Und deshalb werde ich, falls mich jemand nach meiner Meinung fragt, wahrheitsgemäß antworten – und das ist der Grund, weshalb ich es abgelehnt habe, am Abendessen mit Saras Vater teilzunehmen. Aber vor allem anderen, Gabriel, denk daran, dass wir zwei unterschiedliche Menschen sind. Andere hier verwechseln dich nicht mit mir. Sie machen dich nicht für die Verirrungen deines älteren Bruders verantwortlich.«
Gabriel verließ kopfschüttelnd das Zimmer und murmelte: »Mein älterer Bruder redet wie ein Kind.«
6
ESTLAND, 1910
Drei Tage später ersuchte ein blasser und hektischer Alfred um eine Unterredung mit Herrn Schäfer.
»Ich habe ein Problem, Herr Professor«, begann Alfred, öffnete seine Schultasche und entnahm ihr Goethes siebenhundertseitige Autobiographie. Zwischen den Blättern ragten mehrere ausgefranste Papierstreifen heraus. Er schlug die erste markierte Stelle auf und deutete auf den Text.
»Herr Professor, Goethe erwähnt Spinoza hier in dieser Zeile. Und dann wieder hier, ein paar Zeilen weiter unten. Aber dann kommen mehrere Absätze, in denen der Name nicht aufscheint, und ich komme einfach nicht dahinter, ob es darin um ihn geht oder nicht. Eigentlich verstehe ich fast nichts davon. Es ist sehr mühsam.« Er blätterte weiter und zeigte auf einen weiteren
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