Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
der Tuberkulose zu heilen. Und ich hörte, dass er bei ihrer Beerdigung geweint hat.«
»Dr. Apfelbaum ist ein guter Mann. Er kümmert sich immer sehr um uns. Übrigens bezahlen wir ihn immer dafür. Aber es kann auch gute Juden geben. Das weiß ich. Ich spreche nicht schlecht über ihn als Menschen, sondern nur über die jüdische Saat. Es ist unbestreitbar, dass alle Juden die Saat einer verhassten Rasse in sich tragen und dass …«
»Schon wieder dieses Wort ›verhasst‹«, warf Direktor Epstein ein, um Fassung bemüht. »Ich höre eine ganze Menge über Hass, Rosenberg, aber ich höre gar nichts über Liebe. Vergiss nicht, dass die Liebe der Kern der Botschaft Jesu ist. Nicht nur Gott sollst du lieben, sondern auch deinen Nächsten wie dich selbst. Siehst du keinen Widerspruch zwischen dem, was du bei Chamberlain liest, und dem, was du jede Woche in der Kirche über die christliche Liebe hörst?«
»Ich gehe nicht jede Woche in die Kirche, Herr Direktor. Ich gehe da nicht mehr hin.«
»Und was sagt dein Vater dazu? Was würde Chamberlain dazu sagen?«
»Mein Vater sagt, dass er noch nie einen Fuß in die Kirche gesetzt hat. Und ich habe gelesen, das Chamberlain und auch Wagner behaupten, dass die Lehren der Kirche uns eher schwächen als stärken.«
»Du liebst unseren Herrn Jesus nicht?«
Alfred schwieg. Überall vermutete er Fallstricke. Dies hier war ein tückisches Terrain: Der Direktor hatte sich bereits als strenggläubigen Lutheraner bezeichnet. Solange er sich an Chamberlain hielt, war er auf der sicheren Seite, und Alfred strengte sich an, sich an die Worte in dessen Buch zu erinnern. »Ich bewundere Jesus ebenso sehr wie Chamberlain. Chamberlain nennt ihn ein moralisches Genie. Er hatte große Macht und großen Mut, aber unglücklicherweise wurden seine Lehren von Apostel Paulus judifiziert, der Jesus in einen leidenden Schwächling verwandelte. In jeder Kirche gibt es Gemälde oder Glasmalereien von der Kreuzigung Jesu. Keine einzige zeigt Bilder des mächtigen und des mutigen Jesus – des Jesus, der es wagte, sich mit korrupten Rabbinern anzulegen, des Jesus, der die Geldverleiher ganz allein aus dem Tempel warf!«
»Chamberlain sieht also Jesus, den Löwen, und nicht Jesus, das Lamm?«
»Ja«, sagte Rosenberg ermutigt. »Chamberlain sagt, dass es eine Tragödie war, dass Jesus ausgerechnet an jenem Ort und zu jener Zeit aufgetaucht ist. Hätte Jesus vor germanischen Menschen oder, sagen wir, vor indischen Menschen gepredigt, hätten seine Worte einen ganz anderen Einfluss gehabt.«
»Gehen wir zu meiner Frage von vorhin zurück«, sagte der Direktor, der erkannte, dass er den falschen Weg eingeschlagen hatte. »Ich habe eine einfache Frage: Wen liebst du? Wer ist dein Held? Der, den du vor allen anderen bewunderst? Abgesehen von diesem Chamberlain, meine ich.«
Alfred hatte nicht sofort eine Antwort parat. Er dachte lange nach, bis er antwortete: »Goethe.«
Sowohl Direktor Epstein als auch Herr Schäfer richteten sich ein wenig auf ihren Stühlen auf. »Interessante Wahl, Rosenberg«, sagte der Direktor. »Deine Wahl oder die Chamberlains?«
»Sowohl als auch. Und ich glaube, auch die Wahl von Herrn Schäfer. Er hat Goethe in unserer Klasse mehr gelobt als irgendeinen anderen.« Alfred warf einen um Bestätigung heischenden Blick auf Herrn Schäfer und erhielt ein zustimmendes Nicken.
»Und nun sag mir: warum Goethe?«, fragte der Direktor.
»Er ist das größte deutsche Genie aller Zeiten. Der größte aller Deutschen. Ein Genie als Dichter, als Gelehrter, als Künstler und als Philosoph. Er ist ein Genie in mehr Bereichen als irgendein anderer.«
»Eine ausgezeichnete Antwort«, meinte Epstein, plötzlich elektrisiert. »Und ich glaube, ich habe jetzt das perfekte Projekt vor dem Schulabschluss für dich gefunden.«
Die beiden Lehrer tauschten sich leise flüsternd aus. Direktor Epstein verließ den Raum und kam bald darauf mit einem großen Buch zurück. Er und Schäfer beugten sich über das Buch, blätterten mehrere Minuten darin und überflogen den Text. Nachdem der Direktor ein paar Seitennummern notiert hatte, wandte er sich an Alfred.
»Du bekommst folgende Aufgabe: Du wirst zwei Kapitel – vierzehn und sechzehn – der Autobiographie Goethes genau lesen und jede Zeile, die er über seinen persönlichen Helden schreibt, genau abschreiben. Es ist ein Mann, der vor langer Zeit gelebt hat und der Bento Spinoza heißt.
Bestimmt wirst du dich über diese Hausaufgabe
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