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Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)

Titel: Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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sich gerne Textpassagen für Theateraufführungen an der Schule und für Vorträge.
    Zwei Wochen später stand Alfred an einem Ende des langen Tisches von Direktor Epstein, der ihm an diesem Tag noch größer und strenger erschien als je zuvor. Alfred wartete auf Anweisungen. Herr Schäfer war deutlich kleiner und gab Alfred mit ernster Miene ein Zeichen, mit seinem Vortrag zu beginnen. Nachdem er einen letzten Blick auf sein Exemplar mit Goethes Text geworfen hatte, stand er auf, nannte den Titel »Aus der Autobiographie von Goethe« und begann:
    »›Dieser Geist, der so entschieden auf mich wirkte und der auf meine ganze Denkweise so großen Einfluss haben sollte, war Spinoza. Nachdem ich mich nämlich in aller Welt um ein Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehen hatte, geriet ich endlich an die ‚Ethik‘ dieses Mannes. Hier fand ich eine Beruhigung meiner Leidenschaften, es schien sich mir eine große und freie Aussicht über die sinnliche und sittliche Welt aufzutun.‹«
    »Nun, Rosenberg«, unterbrach ihn der Direktor, »was ist es, was Goethe bei Spinoza fand?«
    »Äh, war es seine Ethik?«
    »Nein, nein. Du lieber Gott, hast du nicht verstanden, dass Ethik der Name von Spinozas Buch ist? Was sagt Goethe, was er von Spinozas Buch bekommen hat? Was, glaubst du, meint er mit ›eine Beruhigung meiner Leidenschaften‹?«
    »Etwas, was ihn beruhigt hat?«
    »Ja, das ist es zum Teil. Aber fahre fort: Dieser Gedanke wird sehr bald abermals auftauchen.«
    Alfred wiederholte die letzte Passage im Kopf, um den Faden wiederzufinden, und begann:
    »›Was mich aber besonders an ihm fesselte, war die grenzenlose Eigennützigkeit, die aus jedem Satze hervor …‹«
    »Uneigennützigkeit, nicht Eigennützigkeit«, bellte Direktor Epstein, der den Vortrag Wort für Wort in den Aufzeichnungen verfolgte. »Uneigennützigkeit bedeutet, nicht emotional gebunden zu sein.«
    Alfred nickte und fuhr fort:
    »›Was mich aber besonders an ihn fesselte, war die grenzenlose Uneigennützigkeit, die aus jedem Satze hervorleuchtete. Jenes wunderliche Wort: ‚Wer Gott recht liebt, muss nicht verlangen, dass Gott ihn wieder liebe‘, mit allen den Vordersätzen, worauf es ruht, mit allen den Folgen, die daraus entspringen, erfüllte mein ganzes Nachdenken .‹ «
    »Das ist eine schwierige Passage«, sagte der Direktor. »Ich will es dir erklären. Goethe sagt, dass Spinoza ihn lehrte, seinen Geist vom Einfluss anderer zu befreien, seine eigenen Gefühle und seine eigenen Schlüsse zu finden und dann danach zu handeln. Mit anderen Worten: Lass deine Liebe fließen und lass sie nicht von der Vorstellung der Liebe, die du vielleicht zurückbekommst, beeinflussen. Genau diesen Gedanken könnten wir auch auf Wahlreden anwenden. Goethe würde keine Rede auf der Grundlage der Bewunderung halten, die er von anderen erfährt. Und er würde auch nicht das sagen, was andere von ihm erwarten. Verstehst du? Hast du verstanden, worum es hier geht?«
    Alfred nickte. Was er wirklich verstand, war, dass Direktor Epstein ihm eine tiefe Verachtung entgegenbrachte. Er wartete, bis der Direktor ihm bedeutete fortzufahren:
    »›Übrigens möge auch hier nicht verkannt werden, daß eigentlich die innigsten Verbindungen nur aus dem Entgegengesetzten folgen. Die alles ausgleichende Ruhe Spinozas kontrastierte mit meinem alles aufregenden Streben, seine mathematische Methode war das Widerspiel meiner poetischen Sinnes- und Darstellungsweise, und eben jene geregelte Behandlungsart, die man sittlichen Gegenständen nicht angemessen finden wollte, machte mich zu seinem leidenschaftlichen Schüler, zu seinem entschiedensten Verehrer. Geist und Herz, Verstand und Sinn suchten sich mit notwendiger Wahlverwandtschaft, und durch diese kam die Vereinigung der verschiedensten Wesen zustande.‹«
    »Weißt du, was er hier mit den verschiedensten Wesen meint, Rosenberg?«, fragte Direktor Epstein.
    »Ich glaube, dass er Geist und Herz meint, oder?«
    »Genau. Und was davon ist Goethe und was Spinoza?«
    Alfred machte ein verwirrtes Gesicht.
    »Das hier ist nicht nur eine Übung für deine Merkfähigkeit, Rosenberg! Ich möchte, dass du diesen Text verstehst. Goethe ist ein Dichter. Was ist er also? Geist oder Herz?«
    »Er ist Herz. Aber er hatte auch einen großen Geist.«
    »Ach so. Jetzt verstehe ich deine Verwirrung. Aber hier sagt er, dass Spinoza ihm ein inneres Gleichgewicht gibt, das es ihm erlaubt, seine Leidenschaft und seine

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