Das Spinoza-Problem: Roman (German Edition)
unwiderstehlichen Sog aus. Überzeugt davon, dass sein Schicksal in dieser Stadt lag, ergatterte Alfred innerhalb einer Woche einen Platz auf einem Viehtransporter nach München.
In Anbetracht seiner schwindenden Geldmittel nahm Alfred das kostenlose Mittagessen in einer der Münchner Volksküchen des Emigrantenvereins in Anspruch. Dort gab es anständige Mahlzeiten, allerdings musste jeder seinen eigenen Löffel mitbringen. München war offen, sonnig, betriebsam, voller Galerien und Straßenkünstler. Betrübt musste er beim Betrachten der Aquarelle der Straßenkünstler feststellen, dass deren Arbeiten zwar deutlich besser waren als seine, sich aber dennoch nicht verkauften. Zuweilen machten sich Bedenken breit: Wovon sollte er leben? Wo würde er Arbeit finden? Doch meistens war er unbesorgt: Überzeugt davon, am rechten Ort zu sein, wusste er, dass seine Zukunft sich ihm früher oder später enthüllen würde. Und während er darauf wartete, brachte er seine Tage in Kunstgalerien und Bibliotheken zu, wo er alles las, was er über jüdische Geschichte und Literatur in die Finger bekam, und er begann, das Gerüst eines Buches mit dem Titel Die Spur des Juden im Wandel der Zeiten zu skizzieren.
Bei der Lektüre über jüdische Geschichte stieß er immer wieder auf den Namen Spinoza. Obwohl er nur mit einem Koffer aus Reval abgereist war, in den er seine ganzen Habseligkeiten gepackt hatte, befand sich darunter auch sein Exemplar von Spinozas Ethik. Doch er hatte Friedrichs Rat befolgt und darauf verzichtet, das Werk noch einmal lesen zu wollen. Stattdessen setzte er seinen Namen auf die Warteliste für Spinozas anderes Werk, den Theologisch-Politischen Traktat.
Als er durch Münchens Straßen schlenderte und erfolglos versuchte, ein paar Zeichnungen zu verhökern, schlug das Glück erneut zu. An einem Gebäude entdeckte er eine Tafel: Edith Schrenk: Tanzschule . Edith Schrenk – diesen Namen kannte er: Jahre zuvor waren seine geschiedene Frau Hilda und Edith Tanzschülerinnen in Moskau gewesen. Obwohl von Natur aus schüchtern und obwohl er nur ein- oder zweimal mit Edith gesprochen hatte, sehnte er sich nach einem vertrauten Gesicht und klopfte zaghaft an ihre Tür. Edith, bekleidet mit einem schwarzen Gymnastikanzug und einem eleganten, aquamarinfarbenen Tuch um den Hals, begrüßte ihn freundlich, bat ihn, Platz zu nehmen, bot ihm Kaffee an und erkundigte sich nach Hilda, die sie immer gemocht hatte. Während ihrer ausführlichen Unterhaltung erzählte Alfred von seiner ungewissen Zukunft, von seinem Interesse an der Judenfrage und von seinen Erfahrungen während der russischen Revolution. Als er darauf zu sprechen kam, dass er eine persönliche Einschätzung zu den Gefahren des jüdischen Bolschewismus verfasst hatte, legte Edith ihre Hand auf die seine.
»Nun, Alfred, dann musst du unbedingt meinen Freund Dietrich Eckart aufsuchen, den Herausgeber des Wochenblattes Auf gut Deutsch . Er hat ähnliche Ansichten wie du und ist vielleicht an deinen Beobachtungen der russischen Revolution interessiert. Hier ist seine Adresse. Erwähne auf jeden Fall, dass du von mir kommst, wenn du ihn siehst.«
Alfred verabschiedete sich hastig von ihr und machte sich unverzüglich auf den Weg zu einem Treffen, das sein Leben verändern sollte. Unterwegs zu Eckarts Büro versuchte er, an zwei Zeitungsständen ein Exemplar von Auf gut Deutsch zu erstehen, bekam aber die Auskunft, dass es ausverkauft sei. Als er die Treppe zu Eckarts Büro hinaufstieg, das im zweiten Stockwerk lag, fiel ihm ein, dass Friedrich ihn vor impulsiven, fanatischen Aktionen gewarnt hatte, die ihm das Genick brechen könnten. Doch Alfred schlug diesen Rat in den Wind, öffnete die Tür, stellte sich Dietrich Eckart vor, nannte Ediths Namen und platzte impulsiv heraus: »Können Sie einen Streiter gegen Jerusalem gebrauchen? Ich bin entschlossen, und ich werde kämpfen, bis ich falle.«
15
AMSTERDAM, JULI 1656
Zwei Tage später, als Bento und Gabriel am Morgen das Geschäft öffneten, kam ein kleiner Junge mit Scheitelkäppchen auf sie zugerannt, blieb keuchend stehen und sagte: »Bento, der Rabbi will dich sprechen. Jetzt sofort. Er wartet in der Synagoge.«
Bento war nicht überrascht: Er hatte diese Vorladung erwartet. Er nahm sich Zeit, den Besen wegzustellen, trank den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse, nickte Gabriel zum Abschied zu und folgte dem kleinen Jungen schweigend zur Synagoge. Mit einem Ausdruck ernster Besorgnis im Gesicht
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